6. März 2025

Über Menschen (Juli Zeh)

Über Menschen ist ein Roman, der die Ambiguitätstoleranz der Leserschaft herausfordert. Diese Absicht der Autorin ist von Anfang an deutlich erkennbar. Die Protagonistin, Dora, zieht im ersten Corona-Lockdown von Berlin aufs Land und erkennt, dass die Menschen auf dem Dorf nicht in ihre im städtischen Yuppieleben vorgefertigten Kategorien passen: Der Nachbar ist ein Neonazi, aber trotzdem ein netter Typ mit gutem Herzen; der andere Nachbar ist schwul, aber auch AfD-Wähler. Es gibt keine klar bestimmbaren Antagonisten, kein Gut und Böse, keine Helden und keine Arschlöcher, dafür aber viele Überzeugungen, die relativiert und revidiert werden. Die Protagonistin lehnt zwar die politische Haltung des Neonazis ab, sieht aber dennoch eine Basis für eine Freundschaft (welch ein Glück, dass sie weiß und Deutsche ist). Sie lehnt auch die AfD ab, gewinnt aber Verständnis für die Gründe, aus denen diese Partei gewählt wird.

Über Menschen ist auch ein Buch, das polarisiert – auch das sicherlich beabsichtigt. Auf Amazon finden sich viele Bewertungen, die ihm nur einen Stern geben wegen der Darstellung des Neonazis als Freund; doch der weitaus größere Teil der Bewertungen ist sehr positiv und dabei durchaus differenziert. Und ganz unbestritten schreibt Juli Zeh fantastisch. Die Sprache ist unkompliziert, aber höchst poetisch, die Beschreibungen sind farbig, die Figuren ebenso verschroben wie liebenswert, und die ironischen kleinen Spitzen gegen arrogante Großstadtbewohner, fanatische Umweltschützer und Coronapaniker geraten nie so scharf, dass sie wehtun. Offensichtlich will die Autorin ein Zeichen setzen gegen ideologische Spaltung, gegen Echokammern und Filterblasen, und mit ihrer eher links denkenden, liberalen Protagonistin und deren Freundschaft zu einem Neonazi wählt sie dafür die denkbar krasseste Strategie. Ebenso offensichtlich geht das vielen Leserinnen und Lesern zu weit.

Dabei tut die Autorin alles, um die Annäherung zwischen den beiden so unterschiedlichen Charakteren nachvollziehbar zu machen. Der Nachbar, Gottfried, genannt Gote, stellt sich zwar bei der ersten Begegnung selbst als „Dorfnazi“ vor, aber im Alltag lernt Dora ihn als hilfsbereiten Handwerker und liebevollen Vater kennen, der ihr ungefragt beim Einrichten und Gärtnern hilft und dessen kleine Tochter Franzi sie schnell ins Herz schließt. Erst später hört sie ihn mit ein paar Kumpels das Horst-Wessel-Lied singen und erfährt, dass er an einem Messerangriff beteiligt war und im Gefängnis saß. Ihr Schock über diese Erkenntnisse und ihr innerer Konflikt sind glaubwürdig, allerdings um den Preis ihrer charakterlichen Stärke und Unabhängigkeit: Sie nimmt sich mehrmals vor, Gote mit ihrer Ablehnung zu konfrontieren, sich die ungebetene Hilfe zu verbitten, den Kontakt abzubrechen – nur um sich bei der nächsten Begegnung dann doch wieder machtlos zu fühlen, wenn er „Komm mit“ sagt oder „Wir gehen“ und sie in seinem Pick-up (sie hat kein eigenes Auto und ist Opfer der ländlichen ÖPNV-Misere) zum Einkaufen mitnimmt. Wenn sie ihn doch mal darauf hinweist, dass das Horst-Wessel-Lied verboten ist oder dass sie von der Gewalttat weiß, gibt er zurück: Das sei doch nur ein Lied – oder: Er habe aber nicht zugestochen, es sei auch nicht sein Messer gewesen. Dabei bleibt es dann, die Autorin lässt ihre Protagonistin die Relativierungen hinnehmen. Auch wenn die innere Zerrissenheit spürbar bleibt – der Konflikt kommt nicht zur Eskalation. Jedenfalls nicht so, wie man es vielleicht erwarten, erhoffen würde: nämlich dergestalt, dass die Protagonistin im Dialog mit dem Neonazi standhaft bliebe und sich nicht mit einem „Jeder hasst doch irgendwen“ zum Schweigen bringen ließe.

[Spoiler ab hier]

Als die Eskalation dann doch eintritt, geschieht das zu einem Zeitpunkt, an dem sowohl die Leserin als auch die Protagonistin wissen, dass Gote nicht mehr lange zu leben hat. Erzählerisch hätte also eine kathartische Klärung Sinn ergeben: die Protagonistin endlich in die offene Konfrontation treten lassen, Menschenfeindlichkeit gegen die Werte der Menschenwürde und Mitmenschlichkeit – Dora hätte ja nichts zu verlieren, da das Leben des Neonazis schon verloren ist. Alternativ hätte die Protagonistin den entgegengesetzten Weg einschlagen und die bewusste Entscheidung treffen können, die Differenzen zu ignorieren, um dem Nachbarn durch seine letzten Tage zu helfen und so die Hilfe, die sie von ihm erfahren hat, zu vergelten. Stattdessen lässt die Autorin Dora die Haltung des Mannes in Frage stellen, ihn mit Relativierungen kontern, bis er sagt: „Du glaubst, du bist besser als ich, oder?“ – und sie explodiert: „Und ob ich besser bin! Viel besser!“, woraufhin er nichts mehr erwidert.

Welche Funktion hat dieser Dialog? Warum ist alles, was Juli Zeh ihre Protagonistin der Menschenfeindlichkeit des Neonazis entgegensetzen lässt, ein impulsiver Ausbruch an Selbstgefälligkeit? Soll ich daraus schließen, dass es keine stichhaltigen Argumente gegen Hass und rassistische Gewalt gibt, wenn man dem Hassenden nahe genug kommt, um jenseits des Hasses Vertrauen aufzubauen? Oder vielleicht eher, dass es sie natürlich gibt (und die Protagonistin ebenso wie die Autorin das natürlich auch wissen), dass sich die „Linken“ aber nicht genug darum bemühen, ihre eigenen aufkochenden Emotionen zu überwinden und den „Rechten“ zuzuhören? Warum lässt Juli Zeh den Neonazi die Interaktion dominieren und steuern, die Protagonistin aber nur schwach, nachgebend und, wenn es zur Konfrontation kommt, mit trotziger Wut reagieren? (Weil es die Wirklichkeit abbildet?) Für mich wäre diese Eskalation der Moment gewesen, in dem die Protagonistin endlich Stärke zeigen, sich emanzipieren könnte aus ihrer schwachen Rolle, und sei es nur durch eine unausgesprochene, aber selbstbestimmte Entscheidung zum Akzeptieren und Hinnehmen auf Zeit. (Eine allzu idealistische Wunschvorstellung – hätte ich das in dieser Situation gekonnt?) Das aber geschieht nicht, und dadurch klärt sich nichts, weder zwischen den beiden Figuren noch zwischen der Geschichte und mir.

Dass Gote stirbt, ist eine erzählerische Notwendigkeit. Würde er leben, so sähe sich die Beziehung zwischen der Linken und dem Neonazi einer Realität ausgesetzt, in der sie zum Scheitern verurteilt wäre – ein Zugeständnis, das die Autorin anscheinend vermeiden will, jedenfalls macht sie es nicht explizit. Ein glückliches Ende für die beiden Figuren wäre eine moralische Unmöglichkeit: Entweder müsste Dora Gote irgendwann die Freundschaft aufkündigen, um ihre Überzeugungen zu retten, oder sie müsste sich selbst und ihre Überzeugungen verleugnen, um die Freundschaft zu retten. Eine bleibende freundschaftliche oder sogar liebevolle Beziehung aber, in der Dora die weltanschaulichen Differenzen, den Hass, die Menschenfeindlichkeit tolerieren und akzeptieren würde, obwohl sie sie zutiefst ablehnt, ließe sich nicht dauerhaft realisieren. Juli Zeh beweist also gerade nicht, dass Freundschaft, Liebe und Wertschätzung rassistischem Hass und Menschenfeindlichkeit trotzen und sie überwinden. Sie beweist das Gegenteil: dass eine solch enge Beziehung nur dann bleibend, dauerhaft, „echt“ sein kann, wenn einer von beiden stirbt. Ein Nazi kann ein Freund fürs Leben sein, wenn das Leben verlorengeht – ein Widerspruch in sich. Der Nazi muss in der Geschichte also genau deshalb sterben, damit seine Charakterisierung als liebenswerter Freund ihre Gültigkeit behalten kann. Und damit entlarvt diese Charakterisierung sich selbst als Illusion.

Als Konsequenz fühle ich mich durch das Ende der Geschichte regelrecht verarscht. Dieses Ende ist maximal emotional, es ergeht sich im Schmerz der Protagonistin, ihrer Trauer um den Freund. Was es nicht tut: sich der Frage stellen, was denn gewesen wäre, hätte die Beziehung weitergehen können. Das Ende ist ein Ausweichen, es vermeidet die Konfrontation mit der Menschenfeindlichkeit zugunsten eines gefühligen Nachklangs. Und die Autorin vermeidet es, sich festzulegen in der Frage, ob unter den ganzen Gefühlen nicht vielleicht doch eine Unvereinbarkeit steckt, die ein wirkliches Miteinander-Leben unmöglich macht. Stattdessen versucht sie mich zu zwingen, um einen Nazi zu weinen. Ich habe ihm jede Träne verweigert.

Dennoch: Vielleicht hätte mich jedes andere mögliche Ende genauso abgestoßen, weil es für eine solche Geschichte der moralischen Extreme einfach kein „richtiges“ Ende gibt. Und diese starke Reaktion zeigt, dass Juli Zeh mit ihrer Provokation ins Schwarze trifft. Insgesamt ist Über Menschen ein gewagter und hochrelevanter Roman mit seiner Gegenüberstellung zweier weltanschaulich konträrer, aber menschlich kompatibler Figuren, seiner schonungslosen Ausleuchtung von Widersprüchen und Uneindeutigkeiten und nicht zuletzt seiner wunderbaren Sprache. Er regt zum Nachdenken an und zum – manchmal schmerzhaften – Hinterfragen eigener Überzeugungen. Er fordert nicht nur Ambiguitätstoleranz, sondern trainiert sie auch, bis hin zu Details wie dem Titel. Dessen Mehrdeutigkeit ist die größte, die persönlichste Provokation: Erstens, es handelt sich um eine Geschichte über Menschen, die nie nur gut oder nur schlecht sind. Zweitens, Nazis halten sich für Übermenschen, sind also schlechte Menschen. Und drittens, ich bin kein Nazi, also bin ich besser als solche Menschen, ich stehe moralisch über ihnen … oh, halt, Moment mal.

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