14. April 2025

Streulicht (Deniz Ohde)

Streulicht von Deniz Ohde hatte ich seit langem auf meinem „Unbedingt lesen“-Stapel, allerdings in elektronischer Form. Dadurch hatte ich, als ich es dann endlich anfing, vergessen, warum ich es so unbedingt lesen wollte. Ich begegnete dem Buch also unvoreingenommen und ein wenig naiv – und ich ließ es zutiefst nachdenklich hinter mir.

Die Geschichte, vielleicht autofiktional, ist die einer jungen Frau mit türkischer Mutter und deutschem Vater, die sich bei einem Besuch in ihrem früheren Zuhause an ihre Kindheit und Jugend erinnert. An die Ehe der Eltern, die von Zank und Streit geprägt war; der Vater Industriearbeiter mit Messie-Tendenz, die Mutter nach der Flucht aus den rigiden Traditionen ihrer türkischen Heimat erneut gefangen in den Vorurteilen der Schwiegereltern und der Gesellschaft, erneut unfrei. An ihre Freunde, zu deren Hochzeit sie nun zurückgekehrt ist – beide sind ihr Leben lang am selben Ort geblieben, beide haben die Protagonistin früher mehr oder weniger subtil dort festhalten wollen. An den unterschwelligen, manchmal auch expliziten Rassismus, der ihr in der Schule begegnete, von Mitschülern und Lehrern. Und auch daran, was diese Erfahrungen mit ihr gemacht haben: Schulabbruch, Depression und trotz ihres dann doch noch sehr erfolgreichen Bildungsweges dauerhaft niedriges Selbstvertrauen, dauerhaftes Hochstapler-Syndrom.

Man könnte das Buch einen Bildungsroman nennen, das Motiv des Aufstiegs durch Bildung ist jedenfalls sehr präsent. Was fehlt, ist das Bewusstsein der Hauptfigur, dass ihr Weg der richtige ist; dass sie weiß, was sie will, und dass sie ihre Erfolge verdient. Selbst in der Erzählgegenwart, als junge Erwachsene und Studierende, die Krisen überwunden und Hindernisse gemeistert hat und stolz darauf sein könnte – sein sollte! –, fragt sich Ohdes Protagonistin, Erzählerin und vielleicht literarisches Alter Ego immer noch, ob sie am richtigen Ort ist oder sich nicht vielleicht eine Position anmaßt, die ihr eigentlich nicht zusteht. Ihrer eigenen Empfindung nach bleibt sie immer außen vor. Sie findet keine Heimat, weder in ihrem Lebensweg noch in dem Land, das doch eigentlich das ihre sein sollte, sie aber ihrer familiären Herkunft wegen stigmatisiert.

Die namenlose Protagonistin kommt gemeinsam mit ihren Freunden aufs Gymnasium, wo gleich zu Anfang ein Lehrer ankündigt, dass ein gewisser Anteil der Fünftklässler „ausgesiebt“ werde. Wo ein Grammatikfehler damit erklärt wird, dass das Mädchen ja Deutsch nicht als Muttersprache spreche – was nicht stimmt, sie spricht zu Hause Deutsch, kein Türkisch. Wo ihr weniger zugetraut wird als ihren Freunden, die nicht nur deutsche Namen, sondern auch ein heileres Familienumfeld im Rücken haben, eine bessere soziale Stellung einnehmen und deren Eltern sich beim Elternsprechtag für sie einsetzen können. Die sich verschlechternden schulischen Leistungen der Erzählerin kann zu Hause niemand auffangen, niemand sorgt sich um sie, niemand glaubt an sie. Und so traut auch sie selbst sich bald nichts mehr zu, weil ihr gesamtes Umfeld ihr diese Haltung spiegelt. Als sie die Versetzung nicht mehr schafft und die Schule verlassen muss, interessiert das niemanden – selbst ihre Freunde nehmen es zur Kenntnis, ohne es zu hinterfragen. Den Wiedereinstieg ins Bildungssystem an der Abendschule, wo sie endlich einer Lehrerin begegnet, die sie ermutigt, verdankt sie ausschließlich sich selbst. Doch es fühlt sich nicht wie ein Erfolg an, weil sie dort zunächst zwischen lauter anderen Gescheiterten sitzt und beim Abitur schließlich deutlich älter ist als die Mitschüler, was wiederum einen Lehrer zu besonders strenger Bewertung ihrer Leistungen veranlasst. Sie kann, so wird ihr wieder und wieder suggeriert, nichts richtig machen, weil irgendein Aspekt ihrer Herkunft, ihres Status, ihrer Identität immer gegen sie spricht.

Auf eindringliche Weise, gerade wegen des schnörkellosen und fast sachlichen Stils, illustriert die Geschichte das vielleicht größte Problem des deutschen Schulsystems, nämlich dass Kinder aus bildungsfernen Familien auf der Strecke bleiben. Sie entlarvt die Behauptung, dass Bildung Türen öffne, Zugang zu Chancengleichheit und Gleichbehandlung gewähre und damit auch Benachteiligten, Menschen vom Rand der Gesellschaft, letztlich eine Art Erlösung verheiße, als Mythos. Um nicht zu sagen: als Selbstbetrug der Nichtbenachteiligten, Nichtdiskriminierten, der es ihnen in dem Glauben bequem macht, die Ungerechtigkeit im Bildungssystem sei nicht ihr Problem – die Angebote seien ja vorhanden.

Auf genauso eindringliche Weise erinnerte sie mich aber auch an persönliche Erfahrungen – nicht meine eigenen, sondern die meiner Mitschülerinnen mit Migrationshintergrund. Ich hatte immer türkische Freundinnen in meiner Klasse, in der Grundschule wie auch später auf dem Gymnasium. Keine von ihnen bekam besonders gute Noten; die Grundschulfreundinnen kamen auf die Hauptschule, die im Gymnasium gingen nach der 10. Klasse ab oder wechselten schon vorher die Schule. Ich hinterfragte das genauso wenig wie Sophia und Pikka, die Freunde der Protagonistin von Streulicht. Meine eigenen guten Noten, meine Erfolge nahm ich als verdient hin, also muss ich wohl auch angenommen haben, dass das Scheitern von A., E., B. und S. ebenso gerechtfertigt sei – selbst noch in einem Alter, in dem wir die Autorität der Lehrkräfte nicht mehr uneingeschränkt akzeptierten, über Noten diskutierten und Ungerechtigkeiten in der Beurteilung wahrnahmen. Ob A. und E. von vornherein schlechter bewertet wurden, weil sie zu Hause Türkisch sprachen und die Lehrer*innen sich beim Elternsprechtag nicht mit ihren Müttern verständigen konnten – oder ob B. und S. nicht vielleicht Förderung ihrer Stärken verdient hätten statt Kritik und Entmutigung – diese Fragen stellten wir uns nie. Wir hätten es vielleicht auch nicht gekonnt, nicht mitten in der Pubertät, während wir ausschließlich, hormonbedingt, um uns selbst kreisten. Heute aber schäme ich mich dafür.

Eindringlich zeigt die Geschichte auch die Relevanz eines Begriffs auf, dem ich eigentlich eher skeptisch gegenüberstehe, weil er meiner Ansicht nach als Waffe in einem gruppenorientierten gesellschaftlichen Konflikt eingesetzt wird: dem der Intersektionalität. Die Benachteiligung der Protagonistin und damit ihr Mangel an Selbstvertrauen, an Dazugehören, an empowerment erwächst nicht aus einem einzelnen Minderheitenstatus, sondern aus der Summe verschiedener marginalisierter Identitäten: nichtdeutscher Elternteil, Arbeiterklasse, dysfunktionale Beziehung der Eltern, mentale Probleme in der Familie (Messie) und vielleicht auch „mädchenhaftes“, nämlich ruhiges und zurückhaltendes Verhalten statt, wie es bei einem Jungen eher der Fall wäre, offener Rebellion. Im Sprachgebrauch der progressiven Linken könnte man sagen, sie ist Opfer von Rassismus, Klassismus, Ableismus und Sexismus, werde also auf mehr Ebenen diskriminiert als – zum Beispiel – ein Junge mit türkischem Namen, aber gesunden Eltern, der „nur“ Rassismus erleidet. Doch der Geschichte geht es nicht um den Nachweis eines Opferstatus, sie will die Erzählerin nicht als Summe ihrer verschiedenen Marginalisierungsebenen definieren und sie auch nicht zur Repräsentantin einer besonders diskriminierten Gruppe machen. Denn die Einsamkeit der Protagonistin ist zentrales Motiv: sie fühlt sich gerade keiner Gruppe zugehörig, sie hat auch keine Worte für die ihr widerfahrenen, subtilen oder offenen Diskriminierungen außer der kühlen, präzisen Schilderung des Geschehens. Es gibt kein Label, keine Kategorien, keine Verallgemeinerungen, nur das ganz persönliche Leid, erzählt ohne jede Melodramatik. Die Intersektion der verschiedenen -ismen ist nicht in der Geschichte enthalten, sondern lässt sich nur aus ihr herausinterpretieren. Dennoch ist der Umstand, dass die Erfahrungen der Erzählerin und, als Konsequenz, ihr Selbstbild in einer vielschichtigen und tief verwurzelten Benachteiligung begründet liegen, ständig präsent.

Streulicht macht nicht betroffen; dazu ist der Roman zu sachlich, zu minimalistisch fast. Sondern er macht nachdenklich. Man kennt oder kannte Menschen, die Ähnliches erlebt und erlitten haben könnten (müssten?) wie die Protagonistin. Die Geschichte öffnet einem also die Augen für die Ungleichheit, die dicht unter der Oberfläche liegt und deshalb für Nichtbetroffene nur schlecht sichtbar und leicht zu ignorieren ist; sie weckt Empathie für Menschen, deren Erlebnisse es ihnen schwermachen, sich in Deutschland zu Hause zu fühlen, selbst wenn sie kein anderes Zuhause haben. Sie prangert nicht an, sie dramatisiert nicht, sie emotionalisiert nicht, sondern sie zeigt. In gewisser Weise gleicht sie einem unerwarteten, sehr persönlichen Gespräch mit einer Fremden, von der man nie geglaubt hätte, dass sie sich öffnen würde; einem Gespräch, das keine Probleme löst, aber Brücken baut und Nähe schafft. Man wünscht der Protagonistin, dass sie ein solches Gespräch eines Tages führen wird.

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