15. Februar 2025

Ruhm (Daniel Kehlmann)

Der Autor Daniel Kehlmann ist in meinem Alter. Er ist genau am selben Tag geboren wie mein bester Freund und damit dreieinhalb Monate älter als ich, aber literarischen Erfolg hat er schon seit seinem Studium, das er deshalb auch nicht bis zur Promotion durchgezogen hat. Seinen Weltbestseller Die Vermessung der Welt veröffentlichte er mit Anfang dreißig.

Ich war immer so neidisch auf ihn, dass ich ihn nie lesen wollte.

Hin und wieder mal ein Essay von ihm oder ein Interview mit ihm – das ging, das brach mir keinen Zacken aus der Krone, und jedes Mal stellte ich widerwillig fest, dass mir die geäußerten Ansichten und Perspektiven genauso gefielen wie sein Stil. Ich würde also auch sein literarisches Werk kennenlernen müssen, es ging gar nicht anders. Also las ich Ruhm. Nicht den Megabestseller, sondern das danach (2009) erschienene Buch. Angenehm kurz, ein Episodenroman aus neun lose miteinander verknüpften Geschichten, kein riesiges Epos mit komplexen Handlungsgeflechten, ein bisschen nette Ablenkung von meinem schriftstellerischen Neid – dachte ich.

Die Geschichten handeln von einem Mann, der auf seinem neuen Mobiltelefon (das Wort „Handy“ taucht nie auf) ständig Anrufe erhält, die für jemand anderen bestimmt sind, und irgendwann die Rolle dieses anderen übernimmt. Von einem Schriftsteller, der seine Romanfiguren aus Menschen in seinem Umfeld erschafft. Von einem internetsüchtigen Loser, der alles dafür tun würde, eine dieser Romanfiguren zu sein. Von einer Schriftstellerin, deren Identität sich auflöst, als sie, von ihrer Reisegruppe vergessen und ohne Handy, irgendwo in Zentralasien strandet. Von einer alten Dame, deren Identität sich ebenfalls auflöst, aber nicht durch ihren bevorstehenden und gefürchteten Tod, sondern dadurch, dass der Autor ihrer Geschichte selbige beendet. Von einem Mann, der mit Hilfe von Mobil- und E-Mail-Technologie zwei Identitäten aufbaut.

[Spoiler ab hier]

Es geht also um Identität, um Wirklichkeit und Virtualität und um deren Manipulation durch moderne (oder, da das Buch schon über fünfzehn Jahre alt ist, nicht ganz moderne) Kommunikationstechnologien, aber auch durch übermenschliche Instanzen, etwa ein Schicksal oder einen Schöpfer. In zentraler Position – wenn auch nicht genau in der Mitte, in der sechsten Geschichte – tritt ein Autor von Selbsthilfe-Bestsellern à la The Secret auf, der sich zur Frage der Theodizee äußern soll, also der Vereinbarkeit des tatsächlich existierenden Leids mit der Idee einer Allmacht, die Gutes will. Während die alte Dame in der anderen Geschichte, die mit ihrem Sterben hadert, von ihrem Schöpfer (dem fiktiven Autor ihrer Geschichte, Leo Richter) gnädig erlöst wird, muss der Selbsthilfeguru, der immer das Erlösungspotential des eigenen Selbst bzw. des Universums propagiert hat, dran glauben und wird von seinem Schöpfer (dem echten Autor seiner Geschichte, Daniel Kehlmann) zuerst dem Zynismus anheim geworfen und dann abgemurkst. Vielleicht. Vielleicht überlebt er auch. Offene Enden gibt es in jeder Geschichte, Gewissheit nie – außer darüber: Was unsere Wirklichkeit schafft, unsere leidvolle, schmerzhafte Wirklichkeit, kann keine gütige Omnipotenz sein. Egal, ob es sich bei dieser schöpferischen Macht um eine Technologie, einen Schriftsteller oder eine Gottheit handelt.

Zu dieser Deutung bin ich nach ein, zwei Tagen des Sackenlassens gelangt, begleitet von der Lektüre einiger Rezensionen (sonst wüsste ich auch nicht, wann Kehlmann Geburtstag hat). In einem Interview schildert der Autor selbst seine Überzeugung, dass die Theodizee der Punkt des „moralischen Scheiterns“ religiöser und esoterischer Welterklärungen sei: Niemand habe das Recht, dem Leid der anderen einen Zweck, eine Notwendigkeit oder gar eine Selbstverschuldung zuzusprechen und es so zu rechtfertigen. Diese Überzeugung teile ich, und zugleich kann ich sie als Beleg für meine Interpretation heranziehen. Sie beweist, dass Kehlmann, so freudig er seine Figuren auch in bizarre Widrigkeiten, Zwickmühlen und Sackgassen hineinwirft, sich seiner Grenzen und seiner Verantwortung als Schöpfer bewusst ist. Und auch der Gefahr, die ausginge von einer schöpferischen Entität, der dieses Bewusstsein fehlt. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Ruhm gab es noch kein ChatGPT oder andere generative KIs – aber sie scheinen unterschwellig schon darin mitzuschwingen.

Statt angenehmer Ablenkung fand ich in diesem Episodenroman also jede Menge Denkanstöße, philosophische und auch schriftstellerische Inspiration. Schriftstellerische deshalb, weil Kehlmann sich um „Regeln“ des kreativen Schreibens nicht kümmert, etwa „Show, don’t tell“. Er nimmt sich die Freiheit, Gefühle zu beschreiben statt sie erlebbar zu machen, Figuren der Leserin zu entziehen statt ihr ein Einfühlen, ein Hineinversetzen zu gestatten. Denn genau darum geht es ihm: dass das Erleben meiner selbst und meiner Wirklichkeit nicht axiomatisch ist, dass es manipulierbar und wandelbar ist.

Meinem Eindruck nach hätte diese Botschaft jedoch noch wirksamer umgesetzt werden können, wenn die Figuren nicht ganz so flach blieben. Wenn sie etwas mehr Tiefe hätten, etwas mehr Backstory; wenn sie mehr Nachvollziehbarkeit und Identifikationspotential böten, mit dem der Autor dann hätte spielen und die Leserin an der Nase herumführen können. In der Geschichte In Gefahr zum Beispiel wird mir nicht klar, warum die Ärztin Elisabeth mit dem Schriftsteller Leo Richter zusammen ist, der sich divenhaft, egozentrisch und kindisch aufführt, ihre Arbeit sabotiert und dessen einziges Attraktivitätsmerkmal darin zu bestehen scheint, gut im Bett zu sein. Elisabeth wirkt also von Anfang an flach und funktional, was das Ende der Episode vorwegnimmt. In Ein Beitrag zur Debatte wiederum erscheint der internetsüchtige Loser Mollwitz zwar durchaus als tragische Figur, und die Gründe dafür, dass er sein Heil in einer Geschichte sucht, sind nachvollziehbar; doch der ihm von Kehlmann in den Mund gelegte, eigens erfundene Jargon ist so künstlich und übertrieben, dass die Sprache die Tragik plattwalzt. Auch an anderen Stellen fand ich die sprachliche Darstellung befremdlich bis abstoßend. Vor allem in den Sexszenen, die ich als klischeehaft empfand und in denen zu häufig davon die Rede war, dass die Figuren einander „anfassen“. An diesen Stellen hätte ich als Lektorin einiges auszusetzen gehabt.

Im Ganzen aber bin ich beeindruckt von der Dichte dieses Buchs, das auf relativ wenigen Seiten so viel Faszinierendes, Philosophisches, Provozierendes und Inspirierendes enthält. Und mir gefällt der teilweise surrealistische Erzählstil – die Figur im Dialog mit ihrem Autor, der Filmstar, der feststellt, dass ein anderer seine Identität eingenommen hat, die Frau, die plötzlich merkt, dass sie eine Romanfigur ist. Die Verwebung der verschiedenen Meta-Ebenen zwischen den Geschichten macht Spaß, und sie macht auch Sinn im Zusammenhang mit der Thematik von Wirklichkeit und Identität: So wie die Figuren sich ihrer Identität bewusst werden und sie wieder verlieren, wird sich auch die Leserin der Erzählebene erst bewusst und dann wieder gewahr, dass sie getäuscht wurde. Es gibt keine Brüche, nur Verweislinien, Bögen und Escher-mäßig vernetzte Ebenen. Also: ein interessantes, ein spannendes Buch. Ich möchte, allem Neid zum Trotz, mehr von diesem Autor lesen – der sich auch über die Regel des Buchmarkts hinwegsetzt, bei einem Genre zu bleiben, und damit sicherlich noch viele Überraschungen bereithält. Wenn ich dann wieder vom „Anfassen“ lese, wird mein Lektorinnenauge zwar schmerzen, aber ansonsten freue ich mich darauf.

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