[Diese Geschichte hat beim Literaturpreis 2024 der KünstlerGilde Esslingen die Endausscheidung erreicht.]
Dass sie die Stimmen hört, ist Zufall. Eigentlich wäre sie auf der Arbeit und Mo, ihr siebenjähriger Sohn, in der Schule. Doch Mo hat Fieber, deshalb ist sie zu Hause, als die neuen Nachbarn einziehen.
Immer wieder poltert es die Treppe herauf und wieder hinunter, werden schwere Gegenstände abgestellt und gerückt. Dazwischen erklingt unverständliches Gemurmel, zwei Männerstimmen, eine Frau, manchmal eine helle Kinderstimme. Schließlich scheinen alle Möbel in der Wohnung zu sein. Die Schritte auf der Treppe verhallen, und Mo, der den ganzen Vormittag gequengelt hat, ist endlich eingeschlafen.
Leise geht sie hinüber in die winzige Küche, um aufzuräumen, als sie sie wieder auf dem Treppenvorplatz hört. Nur noch zwei Stimmen sind es jetzt: die Frau und das Kind. Ohne den Umzugslärm sind die Worte deutlich zu erkennen.
Eisige Kälte packt sie. Sie kann sich nicht bewegen. Selbst ihr Herz gefriert.
Sie kennt diese Sprache. Aber nicht aus den Mündern von Frauen oder Kindern. Sie drang durch eine andere Tür, weit weg, in heiseren Männerstimmen. Dann prallte etwas Hartes mit Wucht gegen die Türfüllung. Mo begann zu weinen. Sie hielt ihm den Mund zu. Ihr Puls raste, verstecken, war alles, was sie denken konnte, in den Keller, schnell. Die Männer traten die Haustür auf, als die Kellertür gerade hinter ihr und Mo ins Schloss klickte, aber Mo wimmerte hinter ihrer Hand. Die Männer hörten ihn. Rissen die Kellertür auf. Sie trugen dreckige Uniformen und Maschinenpistolen, zwei hatten die Waffen auf sie gerichtet.
Wo ist dein Mann, schrie einer von ihnen sie an.
Nicht hier. Wir sind allein. Sie sprach in ihrer eigenen Sprache, ohne nachzudenken, aber die Männer verstanden sie dennoch, die Sprachen ähneln sich. Bitte, tut uns nichts.
Lüg nicht, Alte. Sag uns, wo dein Mann ist.
Sie wusste nicht, wo er war. Er hatte sich zur Armee gemeldet. Sie hatte seit über einer Woche nichts von ihm gehört, und jede wache Minute war angefüllt mit dem brennenden Wunsch nach einem Lebenszeichen. Jetzt aber spürte sie zum ersten Mal Erleichterung, dass es keines gab.
Ich weiß nicht, wo er ist, schluchzte sie, bitte, bitte. Sie spürte ihre Beine schwach werden und umklammerte ihren Sohn. Mo wimmerte nicht mehr. Er zitterte.
Der, der sie angeschrien hatte, richtete seine Waffe weiter auf sie und befahl den anderen, das Haus zu durchsuchen. Es folgten Minuten, die sich wie Stunden dehnten, trampelnde Schritte in allen Räumen, harsche Stimmen und der Pistolenlauf, der sie anblickte wie ein tödliches Auge. Jeder Atemzug schmerzte. Jeder Muskel wurde taub. Selbst wenn sie sich hätte bewegen wollen, bewegen dürfen, sie hätte es nicht gekonnt. Mo in ihren Armen, der immer stärker zitterte. Ihr Sohn, ihr Kind, ihr Leben. Das Schlimmste an diesen Minuten waren nicht die Feinde in ihrem Heim, auch nicht die Schusswaffe, auch nicht ihre eigene Angst. Es war das Wissen, dass sie Mo nicht schützen konnte.
Hier ist niemand, sagte einer der anderen Männer, der Bastard hat sich vom Acker gemacht.
Der mit der Waffe zischte: Der Bastard ist im Feld, du Idiot. Oder er vergewaltigt gerade deine Frau.
Der erste Mann stieß eine Serie vulgärer Flüche aus. Sie wollte Mo die Ohren zuhalten, doch dazu hätte sie ihn loslassen müssen.
Der, der sie bewacht hatte, ließ die Pistole sinken und packte sie hart am Arm. Das wirst du uns bezahlen, du Schlampe.
Die Erinnerung daran, was danach geschah, ist verschwommen. Die Männer rissen Mo aus ihren Armen, zerrten sie ins Wohnzimmer, vergingen sich an ihr. Wo ist mein Kind, war ihr einziger, alles übertönender Gedanke. Lasst mir mein Kind. Ihre Wahrnehmung wurde erst wieder klarer, als die Männer weg waren und sie auf dem Boden des Zimmers lag, Mo neben ihr, der sich an sie drückte und Mama, Mama, Mama sagte, wieder und wieder.
Noch am selben Tag packte sie einen Koffer und einen Rucksack. Am nächsten Morgen ging sie mit Mo zum Busbahnhof und kaufte zwei Fahrkarten nach Köln. Eine Cousine von ihr lebt dort, sie würde ihr helfen können. Die Reise verlief ruhig, doch die Ankunft in Deutschland war schwer. Sie sprach kaum Deutsch, und die Cousine weigerte sich zuerst, sie und Mo aufzunehmen, bis sie sie weinend und flehend zu zwei Wochen überreden konnte. Es dauerte, bis sie Arbeit fand. Und die Großstadt überwältigt sie bis heute.
Zurück in die Heimat aber will sie nicht. Diese Heimat gibt es nicht mehr. Die Männer haben sie zerstört, und von ihrem Mann hat sie nie wieder gehört. Weit weg von allem, was an ihn erinnert, ist der Schmerz erträglicher, sie kann wieder andere Dinge wahrnehmen und Mo wieder fröhlich sein.
Und nun erklingt gleich hinter ihrer Wohnungstür die Sprache jener Männer. Die Sprache der Feinde.
Sie kriecht zu Mo ins Bett, presst sich an den heißen Körper ihres Kindes und weint, bis auch sie einschläft.
*****
Den nächsten Tag nimmt sie sich auch noch frei, obwohl Mo am Morgen fieberfrei ist und putzmunter durchs Zimmer tobt. Auf der Arbeit würde sie sich nicht konzentrieren können und Fehler machen, sie würde an nichts anderes denken können als an die neuen Nachbarn; es ist besser so.
Allerdings kann sie ihnen in der winzigen Wohnung auch nicht entkommen.
Sie hört sie wieder im Treppenhaus, als sie Mo die Milch über die Frühstücksflocken gießt. Er hat gestern fast nichts gegessen, nun beginnt er sein Frühstück gierig in sich hineinzuschaufeln. Doch sie kann sich nicht darüber freuen. Schon beim Klappen der Wohnungstür nebenan erstarrt sie, und als sie die Stimmen hört, die Frau und das Kind, lässt sie um ein Haar die Milchflasche fallen. Auch wenn sie die Worte nicht versteht, weil sie zu leise gesprochen werden, bohrt sich jede Silbe wie ein Messer in ihren Leib.
Erst als sich Schritte die Treppe hinunter entfernen und die Stimmen mit ihnen, kann sie wieder atmen. Sie stellt die Milchflasche in den Kühlschrank, setzt sich zu Mo an den Tisch und nippt an ihrem Kaffee. Essen kann sie nichts.
Ich will wieder in die Schule, Mama, sagt Mo zwischen zwei Löffeln. Er sagt es auf Deutsch. Es erfüllt sie mit Bewunderung und sogar Neid, wie mühelos er die Sprache aufgesogen hat, die Lehrerin sagt, er spricht sie perfekt und ohne Akzent.
Sie antwortet in ihrer Muttersprache: Das geht nicht, mein Schatz. Du bist noch zu schwach. Morgen kannst du zur Schule, wenn du weiter so gut isst wie jetzt.
Ich will aber jetzt in die Schule!
Wenn du zur Schule gehst, wirst du nur wieder krank, Schatz. Aber du kannst heute den ganzen Tag mit Lego spielen, wie findest du das?
Lego ist Mos große Leidenschaft, Schulfreunde haben ihn damit angesteckt und ihm mehrere Kartons zum Geburtstag geschenkt. Eigentlich hasst sie es, wenn er überall die kleinen Plastiksteinchen verteilt. Sie tun weh, wenn man drauftritt, und die Einzimmerwohnung ist einfach zu klein für eine solche Unordnung. Aber für einen Tag kann sie darüber hinwegsehen; es wird ihn beschäftigen. Sie fühlt sich außerstande zu anhaltenden Diskussionen mit ihrem energiegeladenen Kind.
Begeistert rennt Mo hinüber ins Zimmer, und sie hört das Poltern der Legokartons und gleich darauf das Klacken vieler kleiner Steine auf dem Linoleumboden. Sie seufzt. Steht auf, geht ans Fenster, öffnet es.
Die frische Luft des Frühlingsmorgens schmeckt nach Freiheit. Nach ein paar tiefen Atemzügen kann sie die neuen Nachbarn für einen Moment vergessen. Aber nur für einen Moment.
*****
Es klopft. Sie hat Mo gerade sein Abendessen hingestellt, das er mit ebensolchem Appetit verzehrt wie das Frühstück und das Mittagessen; morgen wird er tatsächlich wieder in die Schule gehen können. Verwundert blickt sie zur Wohnungstür. Sie kennt niemanden hier außer ihrer Cousine und den Arbeitskollegen, aber keiner von ihnen würde je zu ihr nach Hause kommen.
Mama, Besuch!, kräht Mo und hopst auf seinem Stuhl auf und ab. Nach mehreren Tagen in der engen Wohnung ist er überdreht.
Sie fertigt ihn ab: Unsinn. Niemand kommt zu Besuch.
Dennoch steht sie vom Küchentisch auf und geht zur Tür. Es gibt keinen Türspion, also weiß sie nicht, wer davorsteht. Sie erwägt, einfach nicht zu öffnen, tut es dann aber doch.
Eine Frau steht vor ihr, etwa in ihrem Alter, etwa dieselbe Größe, die gleiche Haarfarbe; sie sieht freundlich aus, aber auch müde, dunkle Ringe sind unter den Augen sichtbar. Guten Abend, sagt die Frau. Es tut mir leid, Sie zu stören, aber haben Sie vielleicht etwas Milch für mich? Ich habe keine Milch mehr für meine Tochter, und sie ist krank.
Die Frau spricht Deutsch, aber mit hörbarem Akzent – einem Akzent, den sie kennt.
Die Einsicht durchbohrt sie wie ein Eiszapfen: Die neue Nachbarin.
Nicht auf Deutsch, sondern in ihrer Muttersprache sagt sie: Ich möchte nicht mit Ihnen sprechen. Dann knallt sie die Tür zu.
Mama, wer war das, ruft Mo aus der Küche.
Sie antwortet nicht. Sie kann nicht antworten. Eine ganze Weile steht sie vor der geschlossenen Tür wie versteinert.
*****
Am nächsten Tag geht Mo wieder zur Schule und sie zur Arbeit in der Küche eines Schnellrestaurants. Es ist keine Arbeit, bei der man viel nachdenken muss, doch sie darf nicht abgelenkt sein, sonst brennen die Burger an und die Pommes werden braun. Sie bemüht sich um Konzentration, aber in Gedanken schmiedet sie den ganzen Tag Fluchtpläne.
Gleichzeitig weiß sie genau, dass es sinnlos ist. Wohin sollte sie fliehen? In ihrer Heimat, die nicht mehr ihre Heimat ist, wütet nach wie vor der Krieg. In Deutschland kennt sie außer ihrer Cousine niemanden. In anderen Ländern spräche sie nicht einmal die Sprache. Und sie hat kein Geld außer ihrem spärlichen Lohn, der kaum für Miete und Essen reicht, geschweige denn neue Kleidung oder Schulsachen für Mo.
Und der Krieg wohnt nun in ihrem Haus, gleich nebenan, er hat sie eingeholt. Es gibt keine Zuflucht mehr, nirgends.
*****
Tage ziehen vorüber in düsterem Grau, selbst wenn die Sonne scheint. Sie schleppt sich zur Arbeit, obwohl ihr jegliche Energie fehlt. Mo ist der einzige Grund, warum sie morgens aufsteht, warum sie in die Küche geht und Frühstück macht, sich anzieht, einkaufen geht oder zum Waschsalon. Ohne Mo wüsste sie nicht, wie sie weiterleben sollte. Und auch nicht warum.
Eines Nachmittags, als sie mit Mo die Treppe heraufsteigt und schon den Schlüssel ihrer Wohnungstür in der Hand hält, hört sie aus der Nachbarwohnung halblautes Weinen. Es klingt nicht wie kindliches Weinen, sondern wie ein erwachsener Mensch, von schlimmem Schmerz gequält. Seit der Begegnung mit der Nachbarin hat sie so getan, als gäbe es die Wohnung nicht. Sie hat es vermieden, auch nur einen Blick auf die Tür zu werfen, und sich an die Vorstellung geklammert, jenseits der Wand ihrer eigenen Wohnung sei ein großes Nichts. Jetzt aber fällt die Selbsttäuschung in sich zusammen.
Mama, sagt Mo, da weint jemand. Hörst du? Eine Frau, oder?
Ja, das höre ich. Ihre Stimme klingt schroff, sie will nicht, dass Mo die Existenz der Nachbarin anerkennt.
Können wir die denn nicht trösten?
Das geht uns nichts an, schnauzt sie. Im selben Moment schämt sie sich. Es ist immer ihr höchstes Ziel gewesen, ihren Sohn zu einem guten, rücksichtsvollen Mann heranzuziehen. Zu einem Mann, der Hilfe anbietet und Gewalt verabscheut. Der niemanden hasst, der ihm nichts getan hat.
Ein schönes Vorbild gibt sie ab.
Aber ich will nicht, dass sie traurig ist, Mama, sagt Mo. Seine Augen glänzen feucht. Sie schämt sich noch mehr.
Auf dem Treppenabsatz bleibt sie stehen. Zwei Schritte sind es bis zu ihrer Wohnungstür, ebenso viele bis zur Wohnung nebenan, sie steht reglos genau dazwischen. Schließlich gewinnt das Mitleid; nicht ihres, sondern das ihres Sohnes. Sie greift nach seiner Hand, atmet tief ein, tritt mit ihm vor die Tür der Nachbarwohnung und klopft.
Das Weinen hört auf. Mehrere Sekunden lang ist es ruhig. Die Nachbarin will niemanden sehen, umso besser, dann kann sie mit Mo in ihre Wohnung und hat ihre Ruhe –
Die Tür öffnet sich einen Spalt.
Die Nachbarin schiebt den Kopf hindurch, zaghaft, mit zerzausten Haaren und verquollenen Augen. Sie hält in der Bewegung inne, als sie erkennt, wer vor ihr steht. Zieht sich wieder zurück.
Sie hält die Klinke fest, bevor die Nachbarin die Tür schließen kann. Wir möchten helfen, sagt sie. Sie sagt es auf Deutsch, und sie hört selbst, dass es steif klingt; wie etwas, das sie nicht wirklich meint, eine halbe Lüge. Doch die andere Hälfte ist ehrlich – für Mo. Sie spürt mehr als sie sieht, wie er an ihrer Seite eifrig nickt.
Die Tür öffnet sich abermals ein wenig. Meine Tochter, sagt die Nachbarin, noch ehe sie vollends zum Vorschein kommt. Sie musste ins Krankenhaus, es geht ihr schlecht … Sie hatte einen Splitter im Kopf … eine Bombe … es war so gut verheilt, aber jetzt hat sie wieder solche Schmerzen. Ich habe Angst.
Sie hört die Nachbarin reden und zwingt sich, auf die Worte zu achten, nicht auf den Akzent. Und auch nicht auf die Zusammenhänge, Menschen, die Bomben werfen, Häuser, die explodieren, Männer, die Türen eintreten. Es ist schwer. Die Erinnerungen drängen in den Vordergrund, heben grollend den Kopf, atmen Angst und Hass; sie werden stärker.
Doch sie selbst ist auch stark. Für Mo. Das hat sie schon oft bewiesen, sie beweist es bis heute, jeden Tag.
Vielleicht kann sie auch für jemand anderen stark sein. Eine andere Mutter, die Angst um ihr Kind hat.
Kommen Sie herein, sagt die Nachbarin, bitte.
Sie schluckt mühsam und packt Mos Hand fester. Es ist nur eine Türschwelle, denkt sie, nur eine Wohnung. Die Gedanken an Bomben und Männer schiebt sie mit aller Kraft beiseite.
Dann sitzt sie in einem Zimmer, das nicht größer ist als ihres, aber aufgeräumter. Einige Stofftiere liegen auf dem gemachten Bett in der Nische, ein paar Bücher auf dem Tisch. Die Nachbarin bringt Tee. Nichts an dieser Wohnung ist bedrohlich, doch sie bleibt auf der Hut. Die Erinnerungen lauern im Hintergrund.
Mo schmiegt sich an sie. Er zeigt auf die Stofftiere auf dem Bett und fragt: Sollen wir deiner Tochter ihre Tiere ins Krankenhaus bringen? Dann ist sie nachts nicht so allein.
Die Nachbarin lächelt. Du bist sehr lieb, sagt sie, darüber wird sie sich bestimmt freuen.
Mo erwidert das Lächeln. Das Lächeln der Feindin. Nein: einer anderen Mutter.
Mama, sagt Mo, können wir morgen Nachmittag zum Krankenhaus?
Zwei Augenpaare schauen sie an, Mos bittend, das der Nachbarin scheu. Ohne Tränen jetzt, nur ängstlich und erschöpft.
Plötzlich sieht sie sich selbst in diesen Augen.
Wenn du unbedingt willst, sagt sie. Aber jetzt gehen wir nach Hause. Zeit zum Abendessen.
Sie steht auf und greift wieder nach Mos Hand. Die wenigen Schritte zur Wohnungstür scheinen durch einen Nebel von Ungesagtem zu führen. Bevor sie hinaustritt, dreht sie sich noch einmal um.
Klopfen Sie einfach, sagt sie, wenn Sie etwas brauchen. Wir haben immer Milch.