Kleine Probleme war eine Empfehlung aus dem Bücher-Podcast Zwei Seiten. (Podcasts sind eigentlich nicht mein Medium. Ich habe viele angefangen, aber selten mehr als eine Folge gehört. Dieser hier ist eine Ausnahme, die ich meinerseits herzlich empfehle!) Dennoch hätte ich den Roman vielleicht nicht gelesen, wäre mir nicht die Autorin Nele Pollatschek schon hier und da begegnet – wenn auch bislang nur mit Essays und Kommentaren, die mich teils zum Nachdenken brachten, teils aber auch Widerspruch herausforderten. Ich war neugierig, ob das bei einem Roman von ihr ähnlich wäre. Im Podcast hörte ich dazu von beiden Gastgeberinnen eine positive Bewertung, die allerdings nicht unerwähnt ließ, dass der Protagonist in anderen Besprechungen weniger gut wegkam und als unsympathisch beschrieben wurde. Eine Figur, die nicht so leicht zu mögen ist und ambivalente Reaktionen provoziert: das machte mich noch neugieriger.
Ich habe den Roman als Hörbuch gehört, gelesen von der Autorin selbst. Das fand ich anfangs etwas gewöhnungsbedürftig, denn mir schien, dass sie ziemlich schnell las – eine Schauspielerin hätte das Lesetempo vielleicht gedrosselt oder stärker moduliert. Aber schon bald war es nur noch wunderbar, genau die Tonlagen und Stimmungen zu hören, die die Autorin beabsichtigt hatte, ihren Protagonisten genau so präsentiert zu bekommen, wie sie ihn konzipiert hatte. Es war wie eine mehrstündige Privatlesung.
Der Protagonist, der auch Erzähler ist, heißt Lars Messerschmitt. Er ist Schriftsteller und hoffnungsloser Aufschieber. Seine Partnerin Johanna verdient das Geld als Mathematik- und Lateinlehrerin und arbeitet scheinbar rund um die Uhr; seine Kinder sind 20 und 16, ein Sohn, der überzeugter Feminist, Antirassist und Veganer ist und mit seiner afrikanischen Partnerin ein paar Straßen weiter wohnt, und eine jüngere Tochter, die eher konservativen Ideen zuneigt, ein Bild von Margaret Thatcher und allerlei mädchenhaften Krimskrams in ihrem Zimmer hat und ihren Vater als Versager sieht. Eine höchst moderne, diverse Familie also, in deren Mikrokosmos sich die Spannungen des gesellschaftlichen Makrokosmos spiegeln. Den allergrößten Teil der Handlung jedoch verbringt Lars allein im Vorort-Einfamilienhaus. Es ist der 31. Dezember, Johanna ist verreist und wird erst abends zur Silvesterfeier zurück sein, und die Tochter ist im Austauschjahr in England. Das Haus, in dem Lars während Johannas Abwesenheit herumgegammelt hat, sieht aus wie Sau. Bis zum Jahresende will, nein, muss Lars nun all das erledigen, was er die ganze Zeit vor sich hergeschoben hat: putzen, die Dachrinne von Laub befreien, das neue Bett für die Tochter aufbauen, Steuererklärung, Vater anrufen, Lebenswerk schreiben. In den wenigen Stunden bis Mitternacht will er sein gesamtes Leben auf die Reihe kriegen.
Er erstellt also eine To-do-Liste. Und zündet sich dann erst mal eine Zigarette an.
Nun kenne ich die Macht von To-do-Listen selbst aus Erfahrung und auch den Hang, gewisse unerfreuliche Pflichten bis zur letzten Minute aufzuschieben – oder noch länger. Überhaupt fand ich mich in dem scheinbar faulen und unproduktiven Schussel Lars auf beinahe unheimliche Weise wieder. Gut, ich habe keine erwachsenen Kinder, die mich nicht respektieren, ich rauche nicht, und gegenüber Chaos, Dreck und Versiffung bin ich doch deutlich weniger tolerant als er. Aber auch ich bin eine (Möchtegern-)Schriftstellerin, die das große Glück hat, dank eines finanzkräftigeren Partners mehr oder weniger intensiv am „Lebenswerk“ arbeiten zu können. Auch ich mache mir lieber tausend Gedanken um das, was zu tun wäre, als es einfach zu tun. Auch ich blicke auf eine Reihe geplatzter Träume zurück und betrachte, während ich ein privilegiertes Leben genieße, ebendieses Leben allzu oft als gescheitert. Ich bin sogar genauso alt wie Lars. Das ist auch insofern bemerkenswert, als Nele Pollatschek ganze 13 Jahre jünger ist. Dass es ihr dennoch gelingt, einen Fast-50-Jährigen so zu porträtieren, dass sich andere Fast-50-Jährige in vielen Facetten seines Denkens, Fühlens und Erlebens erkennen und einen sehr pointierten, sehr humorvollen Spiegel vorgehalten bekommen, der schonungslos alle Abgründe dieser Lebensphase ausleuchtet, ohne dass es wehtut: das ist eine schriftstellerische Leistung, vor der ich den Hut ziehe.
Und es ist vermutlich auch genau der Grund, warum ich den Roman großartig fand und Lars lebensnah, liebenswert und nur ein bisschen verschroben. Während andere Lesende – vermutlich solche, die nicht fast 50 sind und/oder kein Lebenswerk schreiben wollen und/oder es sich nicht leisten können, in größerem Umfang herumzugammeln und zu prokrastinieren – Lars als pathologischen Fall betrachten, der in die Psychiatrie gehört. Dies ist keine Geschichte für überzeugte Pragmatiker, für Menschen der Tat.
Lars aber schreitet auf seine eigene Art zur Tat, denn er möchte es einmal im Leben „gut machen.“ „Mach’s gut, Lars“, hat ihm Johanna in ihrer letzten SMS geschrieben, und dieser Gruß hallt in seinem Kopf wider, er wird zum Leitmotiv seiner urkomisch geschilderten Bemühungen und entfaltet seine ganze Tiefe erst gegen Ende, als klar wird, wie es um Lars’ und Johannas Beziehung wirklich steht. Ob er scheitert wie jedes Mal zuvor oder nicht, ob er aus diesem Silvestertag als Held hervorgeht oder als Slapstickfigur, das ist wohl genauso Ansichtssache wie seine Charakterisierung als sympathisch-zerstreut oder ernsthaft gestört.
Man folgt ihm also durch den Tag – beziehungsweise das, was davon übrig ist und immer alarmierender schrumpft. Man begleitet ihn durch seine Gedanken, Erinnerungen und damit auch durch sein bisheriges Leben. Man lacht sich kaputt über seine Strategie, ein Ikea-Bett zusammenzuschrauben (man gebe sämtlichen Schraubenarten Phantasienamen und verwende diese konsequent, selbst nachdem das Bett schon längst fertig ist), das verwahrloste Haus zu putzen (man definiere einen „Nomos“, ein „Fleckchen der Bedeutung“ inmitten des Chaos, das als „Lichtung der Klarheit“ und Ausgangs- wie auch Ruhepunkt in der allmählichen Ausweitung seiner selbst fungiert) oder einen Nudelsalat für die Silvesterparty zuzubereiten, ohne auch nur eine einzige der nötigen Zutaten zur Verfügung zu haben. Man fühlt komische Verzweiflung angesichts seiner Tendenz, sehr viel mehr Energie in die wohlwollende Analyse der eigenen Fähigkeiten, in die Entwicklung von Ausreden und in die philosophische Erörterung der anstehenden Aufgaben zu stecken als in die Aufgaben selbst. Doch je weiter er kommt mit seiner Liste und je stärker er beschleunigen muss in seinem Wettlauf gegen die Zeit, desto lauter feuert man ihn an: Noch vier Stunden bis Mitternacht! Das schaffst du! Noch eine Stunde! Noch zehn Minuten! Noch eine Minute!! Jetzt nicht aufgeben!!!
Und Lars schafft es. Wie, und was das bedeutet – das spoilere ich hier nicht. Für ihn jedenfalls bedeutet es alles, es ist ein ganz besonderes Happy End. Dieses Ende hat mich mehr gerührt als man es bei einem so lustigen Roman erwarten würde, denn es beweist auf herrliche, total überzogene, dramatische, absolut lächerliche und gleichzeitig zutiefst bewegende Weise, dass auch Aufschieber und Karriereverweigerer als Menschen einen Wert haben. Und dass sie es verdienen, geliebt zu werden.
Danke, Nele Pollatschek.
Was nun aber das große Thema von Gelingen oder Scheitern angeht, dem der Roman viel Raum für unterschiedliche Bewertungen lässt: Auch hier gibt es eine Art abstrakteres Happy End, eine Moral sozusagen. Sie lautet: Jedes Ziel, selbst ein eigentlich völlig unrealistisches, lässt sich erreichen, wenn man nur angemessen definiert, was „erreichen“ heißt. So lässt sich mit der passenden Definition zum Beispiel ohne jegliche Nudelsalatzutat erfolgreich ein Nudelsalat zubereiten. Mit Kreativität also, zeigt Nele Pollatschek, ist der Unterschied zwischen Scheitern und Erfolg nur noch eine Frage der Perspektive.