23. März 2025

Girl, Woman, Other (Mädchen, Frau etc.; Bernardine Evaristo)

Girl, Woman, Other: Booker-Preisträger 2019. Von verschiedenen Freundinnen empfohlen. Und ein absolut fantastisches Buch.

Ich weiß kaum, wo anfangen mit meiner Begeisterung. Vielleicht mit dem Grundsätzlichen, der Struktur, dem Stil, der Geschichte. Stilistisch wagt Evaristo ein Experiment: Sie erzählt nicht in Sätzen, die mit Großbuchstaben beginnen und mit einem Punkt enden, sondern in Absätzen ohne Satzzeichen. Doch das ist nur für wenige Sekunden gewöhnungsbedürftig. Es gibt dem Text äußerlich einen poetischen Charakter und tut dem Lesefluss und dem Verständnis keinen Abbruch.

Die Geschichte: Es geht um verschiedene Frauen in England, zwölf insgesamt, die schwarz sind und ihre Wurzeln in ganz unterschiedlichen Teilen der Welt haben. Ihre Geschichten überschneiden oder berühren sich, manche sind Mutter und Tochter, andere Lehrerin und Schülerin, Freundinnen oder Liebhaberinnen. Einige von ihnen sind progressiv und rebellisch, andere konservativ; manche lesbisch, andere straight; einige arbeiten als Putzfrau oder Bäuerin, andere gehen zur Uni; manche möchten Kinder, andere kriegen einfach Kinder, und eine entscheidet sich, nichtbinär zu leben. Die Figuren decken also ein breites Spektrum an Identitäten ab, es sind Geschichten der Intersektionalität.

Am Anfang steht Amma, schwarz, lesbisch, nicht monogam, Sozialistin, Mutter, alleinerziehend, Dramatikerin und Regisseurin mit ihrem ersten durchschlagenden Erfolg. Die Premiere ihres Stückes und die anschließende Premierenfeier bilden den Rahmen für den gesamten Roman. Amma ist auch die zentrale Figur, alle anderen sind direkt oder indirekt mit ihr verbunden: als Familienmitglied oder Freundin, Dozent*in ihrer Tochter oder Mutter der Schülerin einer Freundin. Und Amma ist Feministin durch und durch. Sie verachtet ihren Vater als sexistischen Patriarchen und sieht erst nach seinem Tod ein, dass er kein schlechter Vater und Ehemann war, sondern ein Kind seiner Generation und seines Kontinents. Sie kann wenig mit den Aussagen ihrer 19-jährigen Tochter anfangen, dass der Feminismus doch gar nicht mehr zeitgemäß sei, weil die Zukunft den Nichtbinären gehöre, der Kampf für Frauenrechte überholt sei, weil die Kategorie „Frau“ als solche überholt sei. Was ihre Identifikation mit einer gesellschaftlichen Schicht oder Klasse angeht, ist Amma weniger konsequent. Lange lebte sie in einem besetzten Haus in einer Kommune und engagierte sich in subversivem Protesttheater, jetzt ist sie Hausbesitzerin in einem frisch gentrifizierten Stadtteil Londons und mit ihrem neuen Stück im Kultur-Establishment angekommen.

Für die anderen Figuren gibt es ähnliche Wendungen, ähnliche Momente des Ankommens in einer Identitätsdimension, die sie sich nie erhofft oder erträumt hätten, in der sie aber ihren Frieden finden. Etwa die alleinerziehende junge Mutter LaTisha, deren drei Kinder alle durch ungewollten Sex entstanden sind: Sie bringt es durch harte Arbeit zur Filialleiterin im Supermarkt und zieht die Kinder mit Mutter und Schwester in einer Mehrgenerationen-Familie auf. Oder Winsome, eine Großmutter und Urgroßmutter, die ihr ganzes Leben als Busschaffnerin im regnerischen London gearbeitet hat: Sie genießt ihre Rente in ihrer karibischen Heimat und wird auf ihre alten Tage zum Bücherwurm. Keine dieser Frauen nimmt die Diskriminierung und das Leid, das ihnen begegnet, als Schicksal hin; keine der Frauen wird dadurch hasserfüllt oder verbittert (und wenn doch, so bleibt sie es nicht bis zum Ende des Romans). Alle dieser Frauen sind in der Lage, aus dem, was ihnen das Leben in den Weg wirft, das Beste zu machen. Sie alle kämpfen mit ihren jeweiligen Mitteln für ihr Glück – und sei es nur dadurch, dass sie lebenslang gepflegte Vorurteile überwinden. Das macht ihre Geschichten inspirierend und hoffnungsvoll.

Im letzten Kapitel, in dem Ammas Premierenfeier stattfindet, laufen all diese Geschichten zusammen. Es ist ein versöhnliches, märchenhaftes Ende, aber nicht märchenhaft im Sinne von kitschig und unglaubwürdig, sondern im Sinne einer Utopie: Intersektionaler Feminismus sieht in seiner idealen Form so aus wie dieses Ende. Nämlich so, dass Unterschiede weder ignoriert werden noch spalten; dass Empathie Gräben überbrückt; und dass man erkennt, dass Identität flexibel und verhandelbar ist und ethnische Identität zwar genetisch bestimmt, aber innerhalb dieser Vorgaben nicht völlig rigide. In der Intersektion ihrer Identitäten lernen alle zwölf Frauen sich selbst besser kennen – und einander akzeptieren. Das Buch und insbesondere sein Ende ist also ein Loblied auf die Kommunikation, auf das Zuhören und den Mut, sich aufeinander einzulassen, auch wenn man dafür über den eigenen Schatten springen muss.

Was mich aber vielleicht am meisten begeistert hat an Girl, Woman, Other, ist, dass es die mit dem intersektionalen Feminismus verknüpften Konzepte und Diskussionsstrategien (man denke an Privileg, Identitätspolitik oder cancel culture) gleichzeitig erfahrbar macht und liebevoll kritisiert. Die junge Yazz, Ammas Tochter, hat ein Erweckungserlebnis, als ihre weiße, in einem Arbeiterhaushalt aufgewachsene Freundin ihre Überzeugung, als Schwarze automatisch weniger privilegiert zu sein, in Frage stellt. Dominique findet sich in einer Beziehung mit einer Frau wieder, die sie psychisch und körperlich misshandelt, obgleich Dominique immer glaubte, derartiger Missbrauch komme nur im Patriarchat vor. Morgan, als Nichtbinäre zur Influencer*in aufgestiegen, erlebt, dass kraft ihrer Identität ihre Meinung zu allen möglichen Themen plötzlich gefragt ist, auch wenn sie sich nicht auskennt – und ihre Partnerin, eine Transfrau, holt sie sanft auf den Teppich zurück und gibt zu bedenken, dass Expertenwissen durchaus nicht ausgedient hat. Morgan wiederum fühlt sich von Dominiques Projekt eines Kunstworkshops für Cis-Frauen angegriffen und ruft ihre Follower zu einem Boykott-Feldzug gegen die vermeintlich transphobe Künstlerin auf; Dominique aber begründet die als diskriminierend wahrgenommene Einschränkung damit, dass eine Transfrau, die als Junge aufgewachsen ist, sexistische Herabsetzung und Verletzung nicht in vollem Umfang erfassen könne, aber genau darum gehe es in ihrem Workshop.

Jede Kontroverse des modernen Feminismus und der Identitätsdebatte wird also spielerisch von allen Seiten ausgeleuchtet. Jeder Figur, die eine kontroverse Ansicht äußert, wird eine andere zur Seite gestellt, die sanft gegenargumentiert. Das ist natürlich nicht realistisch, sondern idealistisch. Aber es zeigt, dass solche Debatten nicht automatisch als „Kulturkrieg“ oder als Shitstorm ausarten müssen, wenn sie respekt- und verständnisvoll geführt werden. Und der Leser*in gibt es die Möglichkeit, auch Standpunkte nachzuvollziehen, die sie selbst ablehnt – die aber auf der Basis anderer Lebenserfahrungen durchaus Sinn ergeben. Ganz von selbst regen die Geschichten die Empathie an und eine differenzierte Betrachtung. Die Moral, wenn man es so nennen kann, besteht darin, dass Identität – Geschlechtszugehörigkeit, Herkunft, Ethnizität, Familienhintergrund – die eigene Meinung immer prägt und dass dafür Verständnis notwendig ist; dass es aber unabhängig davon auch Werte gibt, die nicht verhandelbar sind und nicht identitätsabhängig sein sollten, etwa Bildung und Mitmenschlichkeit.

Kurz: Bernardine Evaristo hat in dieses Buch alles hineingepackt, was ich an einem Roman liebe, und noch mehr. Diversität, Empathie, ein positives und hoffnungsvolles Ende – mehrere sogar, da das Ende des Romans ja die einzelnen Geschichten zusammenführt. Ganz unterschiedliche, aber sämtlich wunderbare, starke, liebevolle Figuren. Und ganz nebenbei eine Darstellung von Intersektionalität und Identitätspolitik, die allen Seiten in den verschiedenen Kontroversen gerecht wird und daran erinnert, dass nicht das Unterscheidende, sondern die Gemeinsamkeiten zwischen uns das Wichtigste sind. Dass wir alle Menschen sind – Menschen, die geliebt werden wollen. Wie schön wäre es, wäre die Welt ein bisschen mehr wie dieses Buch.

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