Zwei junge Frauen, die ungeplant Mutter werden und heiraten: das ist die Ausgangssituation für die Handlung dieses Romans. Er ist 2018 erschienen und wurde vor einiger Zeit im Podcast Zwei Seiten zum Thema „Freundschaft“ empfohlen. Den Podcast mag ich sehr, das Thema ist eines der wichtigsten in meinem Leben, und die Vorstellung des Buches sprach mich an – drei Gründe, warum ich es lesen musste. Nun könnte man aus der oben skizzierten Ausgangslage folgern, dass es darin um die Freundschaft zwischen den beiden Frauen gehe, die ihr ähnliches Schicksal aneinanderbindet. Aber das stimmt nicht, ganz und gar nicht. Es geht um die Freundschaft zwischen ihren gleichaltrigen Söhnen, Moritz und Raffael, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Und auch da ist „Freundschaft“ ein ziemlich weit zu denkender Begriff.
Eine toxische Freundschaft
Die beiden Jungen lernen sich mit drei Jahren kennen, kurz bevor sie in den Kindergarten kommen. Sie wachsen gemeinsam in einem kleinen österreichischen Dorf auf, abgeschieden auf einem Berg, und sind vom ersten Tag an unzertrennlich. Ihre Charaktere, so verschieden sie sind, ergänzen sich auf schicksalhafte Weise: Moritz ist empfindsam, zurückhaltend und zugewandt, Raffael draufgängerisch, bestimmend – und psychopathisch. Diese Ahnung jedenfalls drängt sich auf, wenn man erfährt, dass er seinem kleinen Bruder und bald auch Moritz Schmerzen und Verletzungen zufügt. Dass er Moritz zu Mutproben zwingt, die diesen an seine Grenzen bringen. Und dass er später, als Erwachsener, ein Leben auf der Flucht führt, als Betrüger, der Menschen meisterhaft manipuliert und für seinen eigenen Vorteil missbraucht. Auch Moritz, bei dem er, sie sind nun beide Mitte dreißig, nach langer Abwesenheit plötzlich unangekündigt vor der Tür steht. Und sich einnistet.
Diese Geschichte, die unaufhaltsam – auf vorhersehbare, aber dennoch hochspannende Weise – auf ihre Eskalation und damit auch Moritz’ Emanzipation aus dieser toxischen Freundschaft hinsteuert, wird in geschickt angeordneten zeitlichen Sprüngen erzählt und aus drei verschiedenen Perspektiven. Die erste gehört Moritz und bezieht sich hauptsächlich auf die Erzählgegenwart. Mit der Zukunft, die er sich früher als Kind und Jugendlicher und Raffaels bester Freund ausmalte, hat diese Gegenwart nicht viel zu tun. Statt sein Zeichentalent weiterzuentwickeln, aus dem Dorf wegzuziehen und Kunst zu studieren, ist er in der Gegend geblieben, arbeitet seit seinem Schulabschluss in einer Baufirma und erwartet mit seiner Partnerin ihr erstes gemeinsames Kind. Und natürlich lässt er Raffael arglos auf dem Wohnzimmersofa schlafen, als der wie aus dem Nichts in seiner Wohnung auftaucht – alles andere wäre gegen seine freundliche, offene Natur. Moritz ist Synästhetiker, er sieht Menschen mit einer Art Aura aus Farbe, deren Veränderungen ihm intuitiv Aufschluss über den Charakter oder die Stimmungen seines Gegenübers vermitteln. Bei Raffael hat er schon immer Grün gesehen. Dunkelgrün, fast schwarz: Der Titel des Romans verrät, wie Moritz seinen Kindheitsfreund bei ihrer Wiederbegegnung wahrnimmt. Die düstere Schattierung nimmt viel vorweg, was Moritz zu diesem Zeitpunkt noch nicht über Raffael weiß.
Zusätzliche Perspektiven
Die zweite Perspektive ist die von Johanna, die Moritz und Raffael mit siebzehn kennenlernen, als sie nach dem Unfalltod ihrer Eltern an deren Schule kommt. Sie wird Moritz’ Freundin, doch aus ihren Rückblicken auf jene Zeit wird schnell deutlich, dass sie sich immer zum charismatischen, gutaussehenden „Bad Boy“ Raffael hingezogen fühlte – von Anfang an und bis in die Gegenwart hinein. Dabei ist auch sie für Raffael nur eine Marionette, ein Spielzeug, ein Mittel zum Zweck. Anders als Moritz ist sie nach wie vor in Raffaels Netz aus Manipulation und Verführung gefangen.
Die dritte Perspektive gehört Marie, Moritz’ Mutter. Sie ist interessanterweise die einzige Ich-Erzählerin, was ihr den Anschein einer allwissenden Macht im Hintergrund verleiht. Und tatsächlich durchschaut sie in der Vergangenheit, auf die sich ihre Erzählung konzentriert (in der Gegenwart kommt sie nur noch in Moritz’ Perspektive vor, wenn ich mich nicht täusche), früh die unheilvolle Dynamik, die sich zwischen ihrem Sohn und Raffael entwickelt. Wissend ist sie also, aber Macht, das Geschehen zu lenken oder gar Schlimmes zu verhindern, hat sie nicht – im Gegenteil: Sie schreitet kaum ein, sieht sich ohnmächtig gegen die enge Beziehung zwischen den beiden Jungen. Darüber hinaus ist sie selbst in das dysfunktionale Geflecht der beiden Familien verwickelt, da sie mit Raffaels Vater eine jahrelange, rein sexuelle Affäre führt.
Wer keine eigene Perspektive bekommt, ist Raffael. Das ergibt absolut Sinn, weil er, wie auch Johanna gegen Ende des Romans äußert, gar kein echtes, stabiles Wesen hat: Er stellt immer nur etwas dar, spiegelt die Wünsche und Bedürfnisse seines jeweiligen Gegenübers, verkörpert sie, um sie dann rücksichtslos auszunutzen. Er kennt keine tiefen Gefühle, keine Nähe. Die Autorin gönnt ihm zwar einen Moment, in dem er das erklärt mit dem psychischen Leiden seiner Mutter und dem Mangel an Zuwendung und Fürsorge, an dem er als Kind dadurch litt; seine Mutter kommt aber selbst auch zu Wort mit der Klage, Raffael sei immer schon anders gewesen als andere Kinder, gefühl- und empathielos, sie habe Angst vor ihm gehabt. Raffael ist leer, er nährt sich von den Gefühlen und Sehnsüchten anderer. Er ist, ähnlich wie Margaret Atwoods Räuberbraut, der ultimative Bösewicht: eine Figur ohne Menschlichkeit, die Menschenleben zerstört. Ein gekonnt eingesetztes erzählerisches Mittel, das die schlimmsten Ängste derjenigen Figuren personifiziert, mit denen sich die Leserin identifiziert – und damit auch die der Leserin selbst. Mir, der Freundschaft und echte Nähe so wichtig sind, läuft beim Verfolgen von Moritz’ Kindheitserlebnissen ebenso wie seiner neuerlichen Verwicklung in Raffaels Manipulation ein Schauer nach dem anderen über den Rücken. Und dieser Effekt wird – auch wieder gekonnt – noch verstärkt dadurch, dass Moritz so sensibel und kreativ, so fürsorglich und konfliktscheu gezeichnet wird. Er ist das perfekte Opfer.
Das Opfer ist in Wahrheit der Sieger
Oder vielleicht auch nicht, vielleicht war er es auch nie. Denn Moritz hat, was Raffael und auch Johanna fehlt: starke, stützende Beziehungen. Eine Mutter, die ihn bedingungslos liebt und die, auch wenn sie ihn ungeplant bekommen hat, ihre Mutterrolle zur Lebensaufgabe macht. Eine Partnerin, die ihn ebenso bedingungslos annimmt, die auch Raffael als Moritz’ Freund ganz selbstverständlich willkommen heißt und das Sofabett für ihn bezieht – die Moritz aber auch dazu zwingt, für sich selbst einzustehen und Raffael letzten Endes zu konfrontieren. Moritz fühlt sich zwar, als die Konfrontation dann eintritt und er die Wahrheit darüber erfährt, was damals mit siebzehn wirklich passiert ist zwischen ihm, Raffael und Johanna, betrogen um seine Träume, seine Künstlerlaufbahn. Doch als Einzigem der drei ist ihm Stabilität vergönnt, Freiheit von Raffaels Getriebensein, auch Zufriedenheit mit dem, was ist. Er wird seiner Tochter diese Werte vermitteln können, während Johanna und Raffael ihnen ihr Leben lang nachjagen (wobei sich am Ende auch für sie ein winziger Hoffnungsfunke zeigt).
Also kein Buch über Freundschaft im engeren Sinne. Vielmehr eines über – ja, was eigentlich? Die Schwierigkeit, sich aus manipulativen Beziehungen zu befreien? Die Tragödie der Zerstörung, die solche Beziehungen anrichten? Am ehesten, würde ich sagen, ist es ein Buch über das Annehmen. Denn diejenigen Figuren, die ihre Lebenserfahrungen, gerade die ungeplanten und ungewollten, annehmen und das Beste daraus machen – Marie ihre frühe Mutterschaft, Moritz den Verlust seiner künstlerischen Ausbildung und auch die schockierenden Erkenntnisse am Ende der Geschichte –, sind gewissermaßen die Sieger. Ihnen wird Glück zuteil, kein großes, glänzendes Glück, aber ein kleines, solides. Während diejenigen, die nicht annehmen, sondern kämpfen und jagen und stehlen – Raffael und Johanna –, die Verlierer sind, die Kaputten, die Unglücklichen. Ihre Leben mögen an der Oberfläche glitzernd und aufregend erscheinen, aber darunter ist nichts. Kein Ankommen, keine Festigkeit, keine Nähe, nur Kosten-Nutzen-Abwägung; keine Zufriedenheit, nur kurzfristige Befriedigung.
Sprachliche Farbigkeit
Mareike Fallwickl malt diesen Gegensatz subtil mit einer Sprache aus, die zwischen vulgär und poetisch oszilliert. Johanna „pisst“, Moritz „pinkelt“ höchstens. Johanna und Raffael reden viel vom „Ficken“, Marie benutzt das Wort nur im Zusammenhang mit ihrer Affäre, nicht, wenn es um ihren Mann geht. In Johannas Wahrnehmung erscheinen Dreck, Schimmel, Kotze, ihre Beschreibungen sind hart, schonungslos und rau; bei Marie und Moritz wirkt der Stil weicher, ihre Wahrnehmung konzentriert sich auf die Verbindungen zu anderen Menschen oder die Hindernisse, die solchen Verbindungen im Wege stehen. Besonders Moritz’ Synästhesie verleiht seiner Perspektive eine Tiefe und – im Wortsinne – Farbigkeit, die bei Johanna fehlt. Doch auch sie lässt Gefühl durchschimmern, das durch das Trauma des Todes ihrer Eltern verschüttet ist, sie weiß, dass sie „kaputt“ ist, wenn auch nicht so leer wie Raffael. Sogar sie nimmt sich selbst am Ende an, und sogar ihre Sprache wird in diesem Zuge sanfter. Die stilistischen Kontraste hätten sich vielleicht deutlicher herausarbeiten lassen, aber die seinerzeit von der SZ geäußerte Kritik, dass „der Tonfall der einzelnen Erzählstränge sich kaum voneinander unterscheidet“, erscheint mir ungerechtfertigt.
Dieser Roman ist mitreißend, er verstört, er schockiert, aber er versöhnt auch auf eine sehr tiefe, nachhaltige Weise. Alles, was mir beim Lesen negativ aufstieß, löst sich schlussendlich dadurch auf, dass es auch von den Figuren als nachteilig erkannt oder überwunden wird. (Abstoßend fand ich beispielsweise, wie abwertend und berechnend Johanna anderen Menschen begegnet, wie sie sie auf ihr Äußeres reduziert, wie sie ihre Freundlichkeit ausnutzt; doch Johannas Einsicht ihrer ungesunden Obsession mit Raffael macht schließlich klar, dass auch sie selbst ihre Unfähigkeit zu normalen, unvoreingenommenen Beziehungen unterschwellig bedauert.) Ich habe in finstere Abgründe geblickt und am Schluss die Sonne gesehen, golden und strahlend. Ein Buch, das mich noch eine Zeitlang begleiten wird.