3. August 2025

Der Trafikant (Robert Seethaler)

Der Trafikant ist ein moderner Klassiker: 2012 erschienen, wird der Roman vielerorts in Deutschland als Schullektüre gelesen. Dabei ist der Autor Robert Seethaler Österreicher, die Geschichte spielt in Wien, und allein den Titel des Buches hätte ich vor dem Lesen nicht einmal verstanden, hätte ich nicht schon hier und da Informationen dazu aufgeschnappt. Auf meiner Leseliste stand es jedenfalls schon lange. Ich hatte es mir vor ein paar Jahren gekauft – als Taschenbuch, nicht als E-Book oder Hörbuch, in konkreter, materiell präsenter Form. Daran lässt sich ermessen, wie wichtig es mir erschien.

Jetzt, nach der Lektüre, finde ich diese Wichtigkeit nur zum Teil bestätigt.

Die Unschuld vom Lande in der Großstadt

Es ist keineswegs ein schlechter Roman, und er erzählt eine hochrelevante Geschichte. Die Handlung umfasst ein knappes Jahr vom Spätsommer 1937 bis zum Sommer 1938, ihr Hintergrund ist der „Anschluss“ und der rasante Aufstieg des Nationalsozialismus in Österreich. Dadurch ist das Buch als Pflichtlektüre für Jugendliche, die ungefähr im selben Alter sind wie der zu Beginn 17-jährige Protagonist Franz, geradezu prädestiniert. Aber ich fürchte, über das Alter hinaus reicht das Identifikationspotential nicht. Franz ist ein etwas naiver, freundlicher und liebenswerter Junge aus einem kleinen Dorf im Salzkammergut, Sohn einer alleinerziehenden Mutter, der sich ganz zu Anfang der Geschichte (ernsthaft, welcher 17-Jährige würde das tun?) bei einem schweren Sturm im Bett verkriecht. Durch Umstände, die der Sturm mitverursacht, muss er bald darauf nach Wien ziehen und Geld verdienen. Die Mutter hat ihn an einen alten Bekannten (oder Liebhaber?) vermittelt, der eine „Trafik“ betreibt, ein kleines Geschäft für Zeitungen, Schreib- und Rauchwaren. Schon an dieser Ausgangssituation erschien mir einiges nicht schlüssig. Etwa dass Franz als eine Art Unschuld vom Lande eingeführt wird, seine Mutter aber zugleich recht offen mit ihren gegenwärtigen und vergangenen Affären umgeht – später berichtet sie ihrem Sohn in einem Brief sogar detailliert von einem sexuellen Übergriff auf sie. Oder dass nie thematisiert wird, dass die Mutter mit ihrer unkonventionellen Lebensführung in der Dorfgemeinschaft anecken könnte, was ich für mehr als wahrscheinlich hielte.

Franz kommt also vom Dorf in die Großstadt und ist zunächst komplett überfordert. Zum Glück findet er in seinem neuen Arbeitgeber, dem Trafikanten Otto Trsnjek, einen väterlichen Mentor, in Anezka, einer vollbusigen Böhmin, ein Objekt der Begierde und erster sexueller Erfahrungen und in Sigmund Freud, der zufällig Stammkunde in Trsnjeks Trafik ist und ganz in der Nähe wohnt, eine Art Freund. Parallel zu seiner Coming-of-Age-Geschichte erlebt er, wie das politische Klima rauer und düsterer wird. Wie Kunden wegbleiben oder offen aggressiv auftreten, weil andere Kunden Juden sind; wie die Zeitungen, die Trsnjek Franz zu lesen gibt, irgendwann alle nur noch dasselbe schreiben; und wie überall die Hakenkreuze auftauchen, die Gestapo sich in einem Palast im Stadtzentrum einnistet und eines Tages seinen Chef und Mentor abholt – der dann nicht mehr zurückkommt. Weil er sich seine Unverdorbenheit und seine Menschlichkeit bewahrt, wird Franz zum halbfreiwilligen Widerstandshelden. Sein eigenes Schicksal bleibt am Ende offen.

Wo ist das Identifikationspotential?

Ein wichtiges Buch also als Teil der Erinnerungs- und Bewusstseinskultur, die in Deutschland praktiziert und in der Schule vermittelt wird. Durch die Augen des Protagonisten erleben die Lesenden hautnah mit, wie das begann, was nie wieder geschehen soll, sie können sich in die Situation hineinversetzen und sich fragen: was hätte ich getan? Nur dass das Buch, so scheint mir, dieses Hineinversetzen doch nicht so einfach macht. Denn kein Jugendlicher ist heute mit 17 derart ahnungslos wie Franz, spätestens seit jeder und jede rund um die Uhr online ist. Kein Jugendlicher ist heute sexuell so naiv, dass er oder sie die Interaktionen zwischen Franz und Anezka und auch die Art und Weise, wie Franz später Sigmund Freud davon berichtet, nicht cringe fände – das ging ja selbst mir beim Lesen manchmal so, und ich bin schon sehr lange nicht mehr jugendlich. Und wahrscheinlich würde auch kein Jugendlicher mit einem älteren und berühmten Menschen so sprechen, wie Franz es mit Freud tut (der ihm als prominenter „Deppendoktor“ durchaus schon ein Begriff ist, als er ihm das erste Mal in der Trafik begegnet). Da klingt Franz auf einmal gar nicht mehr naiv, sondern altklug, überheblich, ungeduldig oder sogar genervt.

Überhaupt wirkt die Beziehung zwischen dem jungen und dem alten Mann auf mich konstruiert, gekünstelt, fast schon karikaturesk. Und die Darstellung von Freuds Arbeit gleicht streckenweise wirklich einer Karikatur: Da liegt eine ältere, dicke Patientin auf der Couch und jammert Freud die Ohren voll, weil sie so sehr unter ihrer Körperfülle leidet; und nachdem Freud vor Langeweile fast eingeschlafen ist, gibt er ihr den psychiatrisch bemerkenswerten Rat, doch einfach keine Torte mehr zu essen. Das macht – beabsichtigt oder nicht – den Eindruck, als wolle sich der Autor über Freud und seine Methoden oder gleich über die Psychotherapie als Ganzes lustig machen. Was aber wiederum nicht dazu passt, dass Freud als Figur, als Ansprechpartner für den jungen Franz und Begleiter seines Erwachsenwerdens, durchaus ernstgenommen wird.

Was mir außerdem negativ aufstieß, war die Darstellung der Frauen im Trafikanten. Da gibt es zwar einerseits zu vermerken, dass beide handlungsrelevanten Frauenfiguren, Franz’ Mutter und Anezka, selbstgenügsam auftreten, unabhängig von Männern und sexuell selbstbewusst. Das freut mich. Andererseits aber taugt keine von ihnen – ebenso wenig wie der Protagonist – als Identifikationsfigur für Leserinnen. Die Mutter ist zwar nicht an eine traditionelle Familie und einen dominanten Ehemann gebunden, aber umso mehr an ihren einzigen Sohn. Ihre Rolle definiert sich durch ihn und besteht hauptsächlich darin, Franz als verlässliche Konstante zur Verfügung zu stehen im Hintergrund seines turbulenten Erwachsenwerdens. Anezka wiederum erweist sich als Opportunistin, die ihre sexuelle Gunst nach dem eigenen Vorteil ausrichtet und irgendwann mit einem Nazi zusammen ist; sie hat also nicht dieselbe moralische Festigkeit wie der Protagonist, ist ihm an Charakterstärke unterlegen. Ich glaube, dass mich diese Rollenverteilung auch als 17-jährige Leserin schon geärgert hätte. Was habe ich als Frau, als Mädchen von einem so wichtigen Buch, wenn mir dessen Botschaft durch einen Jungen vermittelt wird, der, wenn er nicht gerade als moralisches Vorbild fungiert, meistens mit seinem Penis beschäftigt ist?

Einfache Sprache, enorme Wirkung

Vielleicht aber bin ich in dieser Hinsicht überempfindlich und deshalb überkritisch, vielleicht sollte ich bei der Bewertung dieses Romans von meinem subjektiven und identitätsbasierten Erleben abstrahieren und mich nicht an Genderfragen festbeißen, die für die wichtige Thematik zweitrangig sind. Also Fokus auf die ganz objektiven und vielgelobten Stärken des Trafikanten. Ich bin nicht die Erste, die Seethalers einfache Sprache bewundert: „einfach“ nicht im Sinne von vereinfachend, sondern insofern, als er mit einfachen Mitteln viel erreicht und eine Tiefe erzeugt, die erst auf den zweiten Blick ihre Wirkung entfaltet. Gerade die sachlichen, leisen und unvoreingenommenen Schilderungen der immer grausameren Ereignisse nach der NS-Machtübernahme aus Franz’ Perspektive sind effektiver, schockierender als es eine emotional überladene Darstellung wäre. An einzelnen Stellen, an denen Franz selbst zum Ziel solcher Grausamkeiten wird, war mir die Schilderung allerdings schon eine Winzigkeit zu sachlich und distanziert. Beispielsweise wird Franz zusammengeschlagen, verliert kurz das Bewusstsein und bemerkt anschließend seine Verletzungen (S. 184–85); die Erzählung aber plätschert dahin, als spüre er keine Schmerzen, zur Sprache kommen lediglich seine Überlegungen, was er mit dem ausgeschlagenen Zahn machen wird. Möglicherweise ist das beabsichtigt: man kann es jedenfalls so deuten, dass sich der Protagonist im Zuge seines coming of age der Unmittelbarkeit entzieht, mit der man zu Beginn noch seine Erfahrungen mitverfolgt. Und ganz am Ende wird es dann vollends indirekt, entrückt die Figur der Identifikationsbeziehung vollständig, als Franz’ heroischer Akt nur noch in der wörtlichen Rede einer Nebenfigur berichtet wird und sein eigenes Erleben, seine Wahrnehmung und Motivation gar nicht mehr vorkommen. Der zum tragischen Helden Gereifte ist nicht mehr greifbar. Er hat sich aus der Geschichte verabschiedet und nimmt die Lesenden nicht bis zum Ende mit, damit dieses Ende, von dem klar ist, dass es kein gutes sein kann, nicht so wehtut. Doch gerade das macht es umso trauriger – und erzählerisch umso stärker.

Robert Seethaler ist ein Autor, der sein Handwerk beherrscht. Egal, welche Kritik ich an Einzelheiten habe: die wichtige Botschaft, und das schreibe ich ohne jede Ironie, kommt an. Man versteht. Man trauert. Nicht, weil man emotional manipuliert würde, sondern weil Seethaler einfach erzählt, was geschehen ist oder hätte geschehen können. Aber man behält auch Hoffnung, weil er nicht nur von Unmenschlichem, sondern auch von Menschlichkeit erzählt.

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