Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, war ein Violinvirtuose und Komponist, der als einer der wenigen People of Color im Paris des 18. Jahrhunderts Furore machte. Im frühen 21. Jahrhundert widmet sich ein Spielfilm seinem Leben: Chevalier. Es ist großartig, dass dieser Film gedreht wurde. Es ist großartig, dass diesem Komponisten, von dessen Werken leider viele verschollen sind, endlich die Anerkennung zuteilwird, die er verdient. Es ist auch großartig, dass mit seiner Geschichte nun ein Publikum angesprochen wird, das an klassischer Musik weniger interessiert ist – aber in diesem Anspruch liegt auch ein Risiko, und in meinen Augen (den Augen einer leidenschaftlichen Liebhaberin der Musik von Mozart, Haydn und eben auch Saint-Georges) bildet er die größte Schwäche des Films.
Saint-Georges vs. Mozart
Er beginnt mit einer Art musikalischem Duell zwischen Saint-Georges (gespielt von Kelvin Harrison Jr.) und Mozart, das, soweit ich mit einer kurzen Recherche1 ermitteln konnte, historisch nicht verbürgt ist. (Saint-Georges, zehn Jahre älter als Mozart, lernte den Deutschen als Wunderkind auf Europatournee kennen; später, im Jahr 1778, wohnten die beiden für kurze Zeit bei derselben Vermieterin in Paris.) Mozart lässt sich vom Pariser Publikum für seine Violinkonzerte feiern, als Saint-Georges aufs Podium tritt und bittet, ihn als Solist zu begleiten. Mozart, der Berühmtere, verspottet ihn, und es entwickelt sich ein Kadenzen-Wettstreit, in dem Saint-George die Virtuosität und musikalische Innovation seines Kontrahenten jedes Mal übertrumpft. Schließlich stürmt Mozart wütend von der Bühne und zischt einen Dabeistehenden an: „Who the fuck is that?!“ Eine Provokation, klar. Der große Held der klassischen Musik als arroganter Rassist. Und jeder Zuschauer, der Mozart sowieso schon zum Gähnen findet, sieht sich bestätigt: Es gibt keinen Grund, ihn oder seine Musik zu mögen, jetzt erst recht nicht.
Nun weiß ich selbstverständlich auch nicht genau, ob Mozart nicht vielleicht wirklich ein arroganter Rassist war. Die meines Wissens einzige schwarze Figur, die es in seinem Opernwerk gibt, nämlich Monostatos aus der Zauberflöte, ist jedenfalls ein Fiesling, was später im Film auch als bewusste Rache des Superstars für die öffentliche Demütigung aus der Anfangsszene interpretiert wird. Dennoch war mir diese gewollte Polarisierung derart zuwider, dass ich den Film um ein Haar abgebrochen hätte – und dann schaute ich doch weiter, um Saint-Georges’ willen.
Brillant, erfolgreich und gemobbt
Es folgt der eigentliche Einstieg in die Biographie des Protagonisten. Joseph wird als uneheliches Kind eines weißen französischen Siedlers und seiner schwarzen Sklavin in Guadeloupe geboren und lebt schon als Kind in Paris, wo er eine Aristokratenschule besucht, im Fechten und in der Musik unterrichtet wird und in beiden Disziplinen brilliert. Der Film stellt die gewaltsame Trennung von seiner Mutter als nachhaltig prägendes Trauma dar, aber dieses für die Handlung wichtige Detail widerspricht den biographischen Informationen; demnach gab es nur kurzfristige Trennungen, und eine Zeitlang lebte die Familie, also Joseph und seine beiden leiblichen Eltern, gemeinsam in Paris, wo die Versklavten per Gesetz frei waren (wenn auch immer noch diskriminierenden Beschränkungen unterworfen).
Die Erzählgegenwart sind die späten 1770er und frühen 1780er Jahre: Joseph wird von Marie Antoinette für seine außergewöhnlichen Leistungen im Fechten zum Chevalier ernannt und wenig später aufgrund seiner musikalischen Erfolge als neuer Leiter der Pariser Oper vorgeschlagen. Man sieht ihn neben der Königin in der Opernloge, wo beide sich in einer Aufführung zu Tode langweilen, und die Königin bestimmt die Modalitäten für die endgültige Auswahl des neuen Leiters: Joseph und sein Mitbewerber Gluck (der zwar tatsächlich zu jener Zeit in Paris Erfolg als Opernkomponist hatte, aber nicht für die Leitung des Hauses kandidierte) sollen jeweils eine neue Oper komponieren und inszenieren. So entsteht Josephs erste Oper Ernestine. Für die Hauptrolle wählt er eine junge Amateursängerin aus statt der Diva, die auch privat hinter ihm her ist – und die schließlich als Rache dafür, übergangen worden zu sein, mit zwei weiteren renommierten Sängerinnen durch eine Petition mit Bezug auf seine Hautfarbe seine Berufung sabotiert (die Petition gab es wirklich). Die Liebesaffäre, die Joseph im Anschluss mit der jungen Sängerin hat, ist zumindest als Inhalt von Klatschnachrichten dokumentiert. Doch die junge Frau ist verheiratet, und ihr Mann, der sie ohnehin am kurzen Zügel hält, beendet die Affäre gewaltsam.
Selbstfindung gemäß Zeitgeist
Beruflich und privat gescheitert, erlebt der Komponist erst dadurch wieder eine positive Wendung, dass seine verloren geglaubte Mutter in sein Leben tritt und ihn an sein ethnisches Erbe heranführt. Hier wird der Film ganz unmissverständlich zeitgeistig. Nachdem Joseph anfangs mit seiner Mutter fremdelt, weil sie mit ihren Freunden Wolof spricht und sich darüber beschwert, dass er wie „sie“ geworden sei, wie die Weißen, die Anderen, lässt er sich schließlich von ihr die Haare flechten und zu ihren Treffen mitnehmen, wo er in der Gemeinschaft der Schwarzen und vor allem in ihrer Musik wieder – oder vielleicht eher: endlich wirklich! – zu sich selbst findet. Außer der Mutter, Nanon, tritt allerdings kein Mitglied dieser Gemeinschaft als Figur in Erscheinung, als Individuum mit Namen und Persönlichkeit oder einer Beziehung zum Protagonisten. Es geht dem Film allzu offensichtlich nur darum, eine „Community“ zu zeigen, durch die sich dessen Identität definiert und in der er zu Hause ist, wie es in der Welt der Weißen, selbst in ihrer Musikwelt, nie wirklich sein konnte.
Warum aber kann die Community eines klassischen Musikers nicht eine Gemeinschaft von Musikern sein? Warum muss das identitätsstiftende Merkmal die Ethnizität sein – in einem Film aus dem 21. Jahrhundert, einer Zeit, in der die im 18. Jahrhundert bestehenden, ethnisch basierten Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten überwunden sein sollten und derselbe Film diesem Fortschritt ein Denkmal setzen will? Warum soll man Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, zuallererst als Person of Color sehen und erst nachgeordnet, nebenbei, als bemerkenswerten Komponisten und Virtuosen? Das ist die Falle des Zeitgeistes, in die der Film tappt. Es geht ihm nicht um den Musiker Saint-Georges. Es geht um eine Person of Color, die in der Kultur der Kolonialisten Erfolg hat, aber letztlich nur in ihrer „natürlichen“ Gemeinschaft wirklich dazugehören kann, frei und glücklich werden kann. Die Figur Joseph de Saint-Georges muss ihre Identität als klassischer Musiker abwerfen, um erlöst werden zu können vom Übel rassistischer Diskriminierung und dem noch grundsätzlicheren Übel, sich selbst, ihre wahre Identität zu verleugnen.
Die Filmmusik entwertet den Musiker
Die Filmmusik unterstreicht dieses Narrativ. Musik aus der Feder des wahren Saint-Georges erklingt zwar, aber nur stückchenweise, in Probensequenzen oder Szenen des Komponierens. Erst mit der Community tritt die Musik in den Vordergrund als wesentliches narratives Element, aber es ist natürlich kein Streichquartett oder eine Violinsonate, sondern Gesang begleitet von komplexen Trommelrhythmen (und an der Trommel, so die sich aufdrängende Deutung, findet Joseph seine „wahre“ Musik). Im Anschluss an diese Schlüsselszene wird gezeigt, wie Joseph sich mit revolutionären Ideen anfreundet und schließlich ein Konzert organisiert zur Unterstützung der bürgerlichen Revolutionäre, in dem er nach einiger Zeit der Abstinenz vom Komponieren ein neues Werk präsentiert. (Der echte Saint-Georges kämpfte tatsächlich mit den Revolutionstruppen, war aber offenbar weniger radikal als es der Film suggeriert.) Das Stück ist ein Marsch mit viel Schlagwerk und einer sich stetig wiederholenden melodischen Phrase, die er im Film von seiner Mutter kennt, die sie ihm vorgesungen hat – eine Musik, die, geprägt vom Gedanken der Überwindung des Alten, Falschen, Schlechten, also: des europäisch-klassischen Stils, die wahre Identität des Film-Joseph ausdrücken soll. Diese Szene ist End- und Höhepunkt des Films, in ihr erscheint der Protagonist endlich befreit, erlöst – ohne eine einzige Note seines tatsächlichen historischen Oeuvres. Erst im Abspann ist ein kompletter Satz aus einem seiner Violinkonzerte zu hören. Also genau dann, wenn die allermeisten Zuschauer das Kino verlassen oder beim Streamen auf „Skip credits“ klicken.
Ich sehe ein, dass Chevalier ein Film für ein möglichst breites Publikum sein soll, nicht nur für Klassikfans. Und ich verstehe, dass die kulturellen Prioritäten der Gegenwart bei Identität und Selbstfindung liegen, dass Geschichten davon handeln und historische Inhalte in diesem Sinne aufbereiten. Aber es macht mich traurig, die gesamte, reichhaltige, vielschichtige und großartige Welt meiner geliebten Musik (und der Musik Joseph de Saint-Georges’!) derart unverhohlen beiseitegeschoben zu sehen, reduziert auf ein, zwei unsympathische Nebenfiguren und die Untermalung der allerunwichtigsten Passagen des Films. Ich hätte mir gewünscht, dass das Werk des Joseph de Saint-Georges mehr Respekt erfahren hätte – und damit auch Saint-Georges selbst als Komponist. So, wie der Film ihn porträtiert, würdigt er ihn nicht als Akteur der klassischen Musik, den man heute in einem Atemzug mit Mozart, Gluck und all den anderen, bekannteren Namen nennen sollte. Sondern er würdigt ihn im Gegenteil als Nichtdazugehörenden. Damit aber entwertet er seine Leistung und sein Werk. Und niemand, der die klassische Musikwelt ohnehin schon für zu weiß und zu kolonialistisch hält, ließe sich dadurch motivieren, diese Haltung zu revidieren. Geschweige denn sich gegen die Missstände dieser Welt, die Ungleichheit und Diskriminierung, die darin leider auch heute noch durchaus existieren, produktiv und inklusiv zu engagieren.
- Quellen:
Wikipedia-Eintrag für Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges
Biographischer Überblick auf der Site AfriClassical
Banat, Gabriel. 2006. The Chevalier de Saint-Georges: virtuoso of the sword and the bow. Hillsdale, NY: Pendragon (eingeschränkt zugänglich ohne Anmeldung) ↩︎