Es ist vielleicht noch nie vorgekommen, dass mich ein Buch so sehr geärgert hat wie Stay away from Gretchen: Eine unmögliche Liebe von Susanne Abel. Und noch viel weniger, dass ich es dennoch zu Ende gelesen habe. Die Geschichte, die es erzählt, ist nämlich nicht nur zeitgeschichtlich relevant, sondern auch spannend und so berührend, dass mir ein paarmal fast die Tränen kamen. Meine Reaktion auf diesen Roman war also maximal ambivalent.
Ein Nachkriegsschicksal
Zunächst zur Handlung, die, wie die Autorin im Nachwort verrät, an die Biographie ihrer eigenen Mutter angelehnt ist: Es geht um Greta, Mitte achtzig und zunehmend dement, und ihr Schicksal als junges Mädchen während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Greta wächst in Ostpreußen auf, muss vor den vorrückenden Russen fliehen und verliebt sich als Flüchtling in Heidelberg in einen schwarzen US-Besatzungssoldaten. Das Töchterchen, das aus dieser Beziehung hervorgeht, wird ihr von der zuständigen Behörde weggenommen, ein Verlust, den sie nie verwindet. In der Gegenwart, im Jahr 2015, erfährt ihr Sohn Tom nach und nach diese Hintergründe. Er macht sich auf die Suche nach seiner verlorenen Halbschwester, und dadurch nimmt auch sein eigenes Leben als erfolgsverwöhnter, aber oberflächlicher und arroganter Fernsehjournalist eine positive Wendung. Es gibt ein Happy End, das alle Erzählstränge ordentlich zusammenführt; es würde unglaubwürdig und überzuckert wirken, wäre da nicht Gretas Krankheit, die es in der Wirklichkeit verankert und einen eher bittersüßen Geschmack hinterlässt. Eine kohärente, stimmige Geschichte also, kompetent konzipiert. Die zugrundeliegende intensive Recherche, insbesondere zur Situation der Soldatenkinder im Nachkriegsdeutschland, ist durch eine Literaturliste belegt und weist die Autorin als ebenfalls kompetente Forscherin und Factcheckerin aus.
Handwerkliche Schwächen, tell statt show
Was mich die Kompetenz aller an der Entstehung des Romans Beteiligter weniger wohlwollend bewerten lässt, ist das Wie des Erzählens – das schriftstellerische Handwerk, wenn man so will. Und zwar auf so vielen Ebenen, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll. Es beginnt bei der Darstellung der Figuren, die mich nicht mitnimmt, mir keine Einfühlung ermöglicht. Greta ist als Kind und junger Teenager begeistert vom Führer und dem Bund deutscher Mädel, später erlebt sie auf der Flucht Entsetzliches, doch es wird nie ganz deutlich, wie diese Erfahrungen ihre Ideologie beeinflussen und ob sie diese überhaupt reflektiert. Auch die Schilderungen der schlimmen Erlebnisse erreichen mich nicht: Über die Ankunft im Flüchtlingslager Friedland lese ich beispielsweise „Greta und ihr Opa waren im Morgengrauen bei minus zwölf Grad aus einem Güterzug gestiegen, wurden mit Flohpulver bestreut, ärztlich untersucht, registriert und bekamen von Caritas-Schwestern belegte Brote und heißen Kakao. Es war der 22. Februar 1946, und hinter den beiden lagen dreizehn Monate, in denen sie in Notunterkünften gehaust und über Landstraßen geirrt waren (sic!)“ (Kapitel 4)1 – und nichts ist fühlbar, nicht die Kälte und Enge im Güterzug, nicht die Demütigung der Abfertigung durch das medizinische Personal, nicht, wie es ist, nach Wochen und Monaten des Hungerns in ein belegtes Brot zu beißen. Über weite Strecken wirkt es ein wenig, als sei der Autorin die akkurate Nennung der Gegebenheiten – Daten, Orte, Witterung, Verwandtschaftsbeziehungen – wichtiger als das Erzählen des persönlichen Erlebens. Als Leserin bleibe ich dadurch außen vor, ich nehme eine Beobachter- oder höchstens Begleitposition ein statt hautnah dabei zu sein, mittendrin im Geschehen.
In Schreibratgebern und Coachings gibt es den Grundsatz Show, don’t tell: zeigen, nicht erzählen – oder freier: bildlich erzählen, die Sinne ansprechen. Diesem Roman hätte es gutgetan, wenn sich die Autorin mehr darum bemüht hätte. Auch in weniger dramatischen Szenen, in denen die Figuren keinen extremen Belastungen ausgesetzt sind, sondern ganz alltäglichen Wahrnehmungen und Empfindungen, lässt sie mich als Leserin nicht mitfühlen, sondern schafft Distanz mit Beschreibungen wie: „[Greta] betrachtete […] ihre Stiefgroßmutter und war glücklich, dass diese ihre alte Kraft und Lebensfreude wiedergewonnen hatte“ (Kapitel 4). (Warum nicht so etwas wie: „Gretas Herz wurde weit, als sie sah, dass die Stiefgroßmutter ihr Lächeln und ihre aufrechte Haltung wiedergewonnen hatte“?) Oder: „Tom […] könnte platzen vor Wut, dass er nicht in Köln geblieben ist. Und wieder einmal bereut er, den New Yorker Job aufgegeben zu haben. Er kann diese rheinischen Kleingeister nicht ertragen“ (Kapitel 3). (Was wäre mit: „Tom presst die Kiefer aufeinander und ballt die Fäuste. Warum hat er den New Yorker Job bloß aufgegeben? Diese rheinischen Kleingeister sind einfach unerträglich“?)
In Kombination mit diesen distanzierten Beschreibungen enthält der Text immer wieder schwerfällige Formulierungen, die sich dem unmittelbaren Erleben in den Weg stellen: „[…], sagt Tom, der nichts von dem fünfzehn Jahre jüngeren Kollegen hält, der seit Kurzem die Spätnachrichten verliest“ (Kapitel 3). Oder: „Nachdem […] die Kanzlerin sich verabschiedet hat, nimmt ihn ihr Pressesprecher, den Tom aus der Zeit, als dieser noch beim ZDF war, kennt, zur Seite“ (Kapitel 3). Derartige unelegant verschachtelte Sätze und sperrige Strukturen, die sich ohne Aufwand flüssiger hätten formulieren lassen, stießen mir beim Lesen von Anfang an auf und ließen mich wünschen, ich wäre die Lektorin dieses Romans gewesen.
Nachlässiges Lektorat
Das wünschte ich mir umso sehnlicher angesichts der vielen vermeidbaren Fehler, die von erschreckender Nachlässigkeit beim Lektorat zeugen – vielleicht auch enormem Zeitdruck, aber das Ergebnis ist genauso unerfreulich. Da begegnen einem zum Beispiel „Trüffle Fries“ (sic! – Kapitel 11) oder die amerikanische Automarke „Buik“ (sic! – Kapitel 10). Die Äußerung eines US-Amerikaners „no circumstances“ wird zwar korrekt übersetzt mit „keine Umstände“ (Kapitel 11), was im Kontext aber als „macht euch keine Umstände“ zu verstehen ist – und das kann es im Englischen definitiv nicht bedeuten. Derselbe US-Amerikaner sagt an anderer Stelle in gebrochenem Deutsch: „Du bist quiet (sic!) alt für deine age“ (Kapitel 6).
Doch die Fehler betreffen nicht nur die englischsprachigen Stellen, was vielleicht so gerade eben noch verzeihlich wäre bei einem deutschsprachigen Lektorat. Es tauchen auch deutsche Fehler auf, etwa diverse fälschlich klein geschriebene „Sie“ und verwandte Formen, die zum Teil den Sinn verändern und das Auge stolpern lassen: „Sie [Greta] ist jedes Jahr, immer zum Geburtstag ihrer (sic!) Schwester, hier im Jugendamt erschienen und hat einen Brief für sie abgegeben,“ informiert eine Jugendamt-Mitarbeiterin Tom, als dieser nach seiner Halbschwester forscht (Kapitel 11). Allerdings hat auch Greta selbst eine Schwester, und auf diese muss sich das kleingeschriebene „ihrer Schwester“ eindeutig beziehen, was im gegebenen Kontext keinen Sinn ergibt.
Andere, wenn auch weniger bedeutungsrelevante Schwächen betreffen die Zeitenfolge im Präteritum („Frau Haider polterte gegen die verrammelte Tür, weil sie wissen wollte, wie lange das alles noch dauert“, Kapitel 4) oder regionale oder nicht standardsprachliche Wortformen, wie „Kinderwägen“ als Plural von „Kinderwagen“ (Kapitel 4 und 10; laut Duden ist „Wägen“ in Süddeutschland und Österreich gebräuchlich, was allenfalls auf Heidelberg zutrifft, einen der Schauplätze des Romans). Darüber hinaus – aber das ist eher eine Geschmacksfrage als eine von Richtig oder Falsch – fallen die vielen umgangssprachlichen und vulgären Ausdrucksweisen auf, die ich als Lektorin zumindest mit der Frage kommentiert hätte, ob das wirklich angemessen sei. Im Großen und Ganzen empfand ich Stil und Sprache als allzu salopp und geradezu dilettantisch. So als habe die Autorin einen ersten Entwurf eingereicht und die Lektorin sich beim Entwirren, Glätten und Polieren kaum Mühe gegeben.
Als Lektorin und auch als Autorin, die an jedem Satz feilt, tut mir das weh – und macht mich wütend. Es nahm mir die Lust weiterzulesen. Nur weil die Geschichte so mitreißend war, war ich schließlich in der Lage, darüber hinwegzusehen.
Wichtiges Thema im falschen Genre
Stay away from Gretchen war nach seinem Erscheinen 2021 lange ein Bestseller. Die Bewertungen, die ich finden konnte, sind durchweg positiv bis enthusiastisch (bis auf eine von sehr weit rechts, die sich in ätzendem Ton über die offen liberale Grundhaltung echauffiert, die die Autorin über ihre Figuren zum Ausdruck bringt, und die ich hier bewusst nicht verlinke). Keine dieser Rezensionen geht auf das Sprachliche, Handwerkliche ein. Und womöglich, das gebe ich zu, bin ich überkritisch in dieser Hinsicht als jemand, der selbst schreibt und gern veröffentlichen möchte; womöglich ist Neid im Spiel und macht mein Urteil schärfer, versperrt mir aber den Blick auf das Inhaltliche, die Idee, das Schicksal hinter der Geschichte. Denn das ist es, was andere Rezensionen feiern: Es geht um das Leid deutscher Flüchtlinge, das im Zuge der zunächst wegduckenden und später schuldfokussierten Haltung zum Zweiten Weltkrieg lange ein Tabuthema war, außer vielleicht für den rechten Rand des politischen Spektrums. Es geht um Rassismus im Nachkriegsdeutschland und das Leid, das er Betroffenen zufügte, vor allem Müttern und Kindern – Geschichten, die einer breiten Öffentlichkeit unbekannt sind. Und es geht darum, dass diese durchaus zeitspezifischen Leidensgeschichten keineswegs irrelevant für die Gegenwart sind, dass sie sich durch transgenerationale Traumatisierung fortsetzen können, dass sie sich wiederholen in den Schicksalen heutiger Flüchtlinge und heutiger Rassismusopfer. Ein ebenso innovatives wie wichtiges Thema also, das literarisch aufzuarbeiten sich absolut lohnt. Und zwar umso mehr im Rahmen eines humanistischen, von Mitmenschlichkeit geprägten Weltbilds, um es nicht als angeblich rein deutsche Thematik den reaktionären, ausgrenzenden, antihumanistischen Akteuren zu überlassen.
Doch eben weil es so wichtig ist, hätte das Thema eine kompetentere, weniger schlampige Behandlung verdient. Nicht was die Faktendarstellung angeht – Susanne Abels Recherche ist vorbildlich, und dafür zolle ich ihr Respekt. Diese Gründlichkeit aber kontrastiert mit der nachlässigen Erzählweise und den Fehlern und Schwächen in den sprachlichen Details, und dadurch kann ich den Roman als Literatur nicht ernst nehmen. Er kommt als Unterhaltungslektüre daher, leicht und schnell wegzulesen, rührend, aber nichts Tiefgründiges – und vielleicht ist genau das sein größter Fehler. Mit solider Erzähltechnik und einem gewissenhaften, sensiblen Lektorat wäre er weniger Mainstream, weniger Massenware, aber er würde den Schicksalen, die er schildert, besser gerecht.
- Alle Zitate stammen aus der E-Book-Ausgabe des Romans. Da das EPUB-Format keine festen Seitenzahlen enthält, kann ich diese leider nicht angeben und nenne als Notlösung die Kapitel. ↩︎