[Diese Geschichte wurde beim Literaturwettbewerb 2024 der Gruppe 48 in die Anthologie Wunderwerk Text aufgenommen.]
Irgendwo im Haus spielt jemand Klavier, zwischen Mitternacht und ein Uhr. Nicht jede Nacht, aber häufig. Zwischen Mitternacht und ein Uhr gehe ich meist zu Bett, und normalerweise ist es um diese Zeit ganz still. Die Welt ist zur Ruhe gekommen. Die Vögel schlafen, die Autos stehen in Garagen oder Parkbuchten, und selbst das ewig streitende Paar nebenan hat in seinem Zwist die Pausentaste gedrückt.
Diese Zeit gehört mir. Es gibt kein Telefon und keine Nachrichten, kein Fernsehen und keinen Newsfeed, niemanden, der etwas von mir will. Es gibt nur mich und meine Zahnbürste.
Und jetzt, seit einer, vielleicht auch zwei Wochen, diese leise Musik.
Ich halte im Zähneputzen inne, um sie besser hören zu können, vielleicht eine Melodie zu erkennen. Doch es gelingt nicht. Die Klänge sind vage und undeutlich, es lässt sich keine Struktur ausmachen und auch keine Richtung, aus der sie kommen könnten. Ich vermute, ich höre sie durch die Lüftungsrohre. Das Haus ist groß, eher schon ein Wohnkomplex, mit vielen Wohnungen und noch mehr Menschen darin, und durch die Lüftung dringen manchmal Geräusche und Gerüche aus überraschend weit entfernten Wohnungen in mein Badezimmer. Ich zucke die Achseln und nehme meine Zahnpflege wieder auf: Solange mich das Klavierspiel im Schlafzimmer nicht am Einschlafen hindert, ist alles in Ordnung.
Zehn Minuten später schlafe ich fest.
Am nächsten Abend im Bad aber höre ich es wieder. Ich überlege, ob die Person, die da spielt, wohl allein wohnt wie ich. Ob sie ernsthaft übt oder nur so herumklimpert. Warum sie das unbedingt zwischen Mitternacht und ein Uhr tun muss – zu einer anderen Uhrzeit habe ich es jedenfalls noch nie bemerkt. Und ob ihre Nachbarn damit einverstanden sind oder sich gestört fühlen, weil sie schlafen wollen. Wer weiß, vielleicht klopfen sie genau in diesem Moment wutentbrannt an die Tür der Klavierspielerwohnung. Oder sie schreiben giftige Nachrichten auf Zettel und legen diese vor die Tür, wie es meine eigene Nachbarin tut, wenn ich im Winter hin und wieder vergesse, meine schmutzigen Stiefel aus dem Hausflur hereinzuholen. Schmutzige Stiefel vor meiner Tür sollten eigentlich niemanden stören, Klavierspiel um Mitternacht schon eher.
Doch als ich im Bett liege, ist nichts mehr zu hören. Der Schlaf umfängt mich ungehindert wie jede Nacht.
Am Tag existiert die Musik nicht. Weder in meinem Ohr noch in meinen Gedanken, allerhöchstens als Hauch einer Erinnerung. Am Tag ist die Welt größer, sie besteht aus mehr als nur Schlafzimmer, Bad und Zahnbürste; sie umfasst ein piepsendes und klingelndes Handy, einen leise surrenden Computer, Stimmen und Schritte im Hausflur, das Brummen und Rumpeln des Aufzugs. Sie umfasst auch das ständige Dröhnen von Autos und Bussen auf der Straße, durchbrochen dann und wann durch ein Hupen, das Aufheulen eines Motors, einen lauten Ruf. Sie umfasst das Keifen und Schimpfen in der Wohnung nebenan, das in unregelmäßigen Abständen aufbrandet, manchmal auch das Weinen eines Kindes oder einen dumpfen Beat. Nie umfasst sie Stille. Nie gäbe sie meine Ohren die Chance, nach gedämpften Klängen unbestimmten Ursprungs zu horchen, oder meinem Geist die Muße, sich die ruhige, winzige und friedliche nächtliche Welt zu vergegenwärtigen, in der solche Klänge ertönen können.
Zwischen Mitternacht und ein Uhr aber, in meinem Badezimmer, ist die Welt wieder klein und still.
Ich lausche in die Stille hinein, doch vergeblich. In dieser Nacht schweigt die Musik. Auch nach dem Zähneputzen horche ich noch einmal angestrengt; nichts ist zu hören. Und am nächsten Morgen, mit dem Erwachen des Piepsens und Summens, des Rauschens und Rumpelns, der Stimmen, Schritte und Motoren, ist die Musik vergessen.
Einige Tage lang passiert nichts. Weder höre ich das Klavierspiel nachts im Bad noch schleicht es sich tagsüber in meine Gedanken. Bis ich eines Nachts, ich war mit Bekannten unterwegs, später die Zähne putze als sonst, es ist schon halb zwei. Und da sind sie wieder: die leisen Klänge, die von jenseits der Stille an mein Trommelfell dringen. Das wiederholte, zarte „pling“ eines Hämmerchens auf der Saite, nicht in schneller Folge, sondern in gemächlichem Rhythmus, wechselnde Tonhöhen, vielleicht Akkorde, vielleicht auch nur einzelne Finger auf einzelnen Tasten.
Eine Musik wie aus einem Traum. Die Musik der Nacht.
Ich lasse die Zahnbürste sinken. Halte sie unter den Wasserhahn, spüle den Mund aus, spucke. Dann verlasse ich das Bad. Aber statt ins Schlafzimmer zu gehen, wende ich mich zur anderen Seite, zur Wohnungstür.
Mag sein, dass mein Entschluss der fröhlichen Gesellschaft des Abends zuzuschreiben ist; dem Alkohol, den ich genossen habe, womöglich ein wenig zu viel. Doch mein Kopf ist klar, als ich den Schlüssel vom Haken nehme, die Wohnungstür öffne und in Schlafanzug und Pantoffeln auf den Hausflur hinaustrete. Er ist dunkel, aber ich mache kein Licht. Das fahle Grau, das am Ende des Flurs durchs Fenster hereinsickert, genügt mir. Sacht ziehe ich die Wohnungstür zu, sie klickt ganz leise. Dann ist es still. Ich horche.
Und höre. Sie ist noch da, die Musik der Nacht, und ich möchte herausfinden, woher sie kommt. Wer sie spielt.
Behutsam, fast geräuschlos in meinen Pantoffeln tappe ich den Flur entlang. Bleibe alle paar Schritte stehen. Lausche.
Die Klänge begleiten mich, sie werden nicht leiser, aber auch nicht lauter. Ich nehme nicht wahr, ob ich mich ihnen nähere oder von ihnen entferne. Sie scheinen von überallher zu kommen. Oder von nirgendwoher. Ich schreite die gesamte Etage ab, ohne Erkenntnisse zu gewinnen. Die Musik aber weht weiter an mein Ohr.
Dann, nervenzerreißend laut, hallt durch den Gang das Rumpeln des Aufzugs, der sich in Bewegung setzt. Es weicht dem ruhigen Brummen, mit dem sich die Kabine aufwärts bewegt, und nach einigen Sekunden rumpelt es wieder – noch lauter, ohrenbetäubend nah. Auf meiner Etage. Ich halte die Luft an.
Als das Licht im Flur angeht, die Aufzugtür quietscht und leise Stimmen herausquellen, bin ich durch die schwere Rauchschutztür ins Treppenhaus geschlüpft und schiebe die Tür leise hinter mir zu. Die Stimmen bewegen sich den Flur entlang, bis das Klappen einer Wohnungstür sie abschneidet. Doch es kehrt keine Ruhe ein. Mein Puls hämmert, mein Atem lärmt in meinen Ohren. Ich brauche viele tiefe Atemzüge, um wieder in die Stille zu horchen.
Nichts ist zu hören. Keine Musik erklingt, so aufmerksam ich auch lausche.
In dieser Nacht dauert es lange, bis ich einschlafe.
Beim nächsten Mal, als ich mich auf die Suche nach den Klängen mache, bin ich nicht vorsichtig genug. Ich lasse meine Wohnungstür hinter mir ins Schloss fallen, statt sie sanft zuzuziehen. Der Knall zerfetzt die Nacht wie eine Explosion. Keine Minute später knarrt die Tür der Nachbarwohnung, und der Kopf der Nachbarin schiebt sich hindurch. Licht flammt auf.
„Was machen Sie denn hier, um Gottes willen! So ein Krach mitten in der Nacht! Kennen Sie denn gar keine Rücksicht?“
Ich kneife die Augen zusammen, das Licht blendet, ich muss die Orientierungslosigkeit nicht vortäuschen: „Was – was ich hier mache? Ich bin nicht sicher. Ich muss wohl schlafwandeln.“
„Dann machen Sie, dass Sie zurück ins Bett kommen. Und machen Sie um Gottes willen nicht noch mal so einen Höllenlärm mitten in der Nacht.“
Die Nachbarin zieht den Kopf zurück, aber in diesem Moment fällt mir etwas ein: „Sagen Sie, haben Sie denn die Musik nicht gehört? Die Klaviermusik? Meistens zwischen Mitternacht und ein Uhr?“
Der verächtliche Blick der Nachbarin spricht Bände. „Sie sind wohl verrückt“, stellt sie fest. „Das Einzige, was ich gehört habe, war der Radau, den Sie veranstaltet haben. Es gibt keine Musik um Mitternacht. Und wenn es sie gäbe, dann würde ich ihr ganz, ganz schnell ein Ende bereiten, das können Sie mir glauben. Das wäre gegen die Hausordnung und eine unverschämte Ruhestörung!“
Nachdem sie ihre Tür geschlossen hat, stehe ich noch eine Weile reglos im Hausflur und warte, bis die Stille zurückkehrt. Ich spitze die Ohren, aber die Musik ist fort.
Tage vergehen, oder richtiger: Nächte, bis ich die Klavierklänge wieder vernehme. Sekunden später stehe ich abermals draußen im Flur, entschlossen, meine Nachforschungen fortzusetzen. Doch diesmal kann ich mich nicht einlassen auf die Stille, nicht in sie hineinhorchen. Mein Herzschlag dröhnt, mein Atem rasselt, und der Umstand, dass die Nachbarin vermutlich auf der Lauer liegt und beim kleinsten Mucks in der Tür stehen wird, verhindert, dass mein Körper zur Ruhe kommt. Außerdem hat sie mich nachdenklich gemacht: Könnte sie die Musik hören wie ich, so hätte sie längst ihre Quelle ermittelt und zum Versiegen gebracht, ohne jeden Zweifel. Niemals würde sie tolerieren, was ich nun schon so viele Nächte erlauscht habe. Sie hätte gleich beim ersten Mal die Polizei gerufen.
Bin ich am Ende der Einzige, der die Klänge hören kann?
Das wäre schade, denke ich. Sie sind nicht störend, sondern schön. Nicht hektisch und chaotisch wie der Tag, sondern sanft und friedenstiftend. Nicht Lärm, sondern Lied – das Lied der Nacht.
Die ganze Welt, denke ich, sollte sie hören.
Plötzlich fällt mir ein, dass in meiner Abstellkammer ein elektrisches Klavier steht. Vor Jahren habe ich einige Unterrichtstunden genommen, doch dann fehlte die Zeit zum Üben. Ich wollte das Instrument immer weggeben und habe es immer vergessen. Jetzt aber wird mir klar: Ich brauche es noch.
Als ich die Musik das nächste Mal höre, zwischen Mitternacht und ein Uhr, ist alles bereit. Das Klavier ist im Badezimmer aufgebaut, es passt ganz knapp zwischen Dusche und Toilette. Ich drehe die Lautstärke hoch.
Die ersten leisen Töne, die an mein Trommelfell schweben, treffe ich auf den Tasten noch nicht. Doch allmählich entnehme ich den Klängen Sinn. Ich spiele sie nach, aufmerksam horchend, mich hineinhörend in die ruhigen Tonfolgen, ihren Verlauf erfassend. Die Töne werden zu einer Melodie, die Melodie wird zu einem Lied.
Ich spiele das Lied der Nacht.
Ich spiele und spiele.
Draußen ertönt eine Polizeisirene.