The Unconsoled (ich habe es im englischen Original gelesen) war mein erstes Buch von Kazuo Ishiguro. Es interessierte mich, weil es Musik zum Thema hat und einen Musiker als Protagonisten. Doch es war alles andere als ein leichter Einstieg in Ishiguros Werk. Die Lektüre ist anstrengend: ein gewundener, langatmiger Erzählduktus, Figuren, die nie greifbar und schon gar nicht nachvollziehbar sind, und eine verwirrende Diskontinuität von Zeit und Raum, von Ursache und Wirkung. Worum geht es hier eigentlich?
Hauptfigur und Erzähler ist ein berühmter Pianist, der in einer Stadt eintrifft, in der er in wenigen Tagen einen wichtigen Auftritt haben wird. Doch hunderte von Seiten lang spielt er keine einzige Note. Er weiß noch nicht einmal, wie sein Zeitplan für das Gastspiel aussieht, wen er treffen soll, was er spielen soll. Stattdessen wird er ständig um Gefallen gebeten, bei der Durchführung dieser Tätigkeiten jedoch komplett abgelenkt; er ist mit einer Person unterwegs und geht dann auf einmal mit einer anderen Person woandershin; er hat ein Ziel, weiß aber nicht, wie er dorthin gelangen soll, trifft dann plötzlich jemanden, mit dem er früher zur Schule gegangen ist … und jede dieser Personen breitet in langen Monologen die Motivationen für ihr jeweiliges Anliegen oder ihre Bitte aus, die aber mit dem Protagonisten selbst nichts zu tun haben. Er wird von allen erkannt, bewundert und verehrt, steht aber niemandem nahe und scheint keine stabilen Beziehungen zu haben. Nicht einmal mit den Figuren, die sich irgendwann als seine (Ex-?)Frau und sein kleiner Sohn herausstellen. Sämtliche Handlungen und Dialoge, sämtliche Episoden, Wege und Zeitabläufe sind geprägt von randomness: nichts folgt logisch aus dem Vorhergehenden und nichts ergibt Sinn, weder erzählerisch noch im Hinblick auf die Kohärenz der Wirklichkeit.
Zu Beginn hat mich das wahnsinnig gemacht. Nach rund 100 Seiten ohne jeden narrativen Zusammenhalt wusste ich nicht, ob ich überhaupt weiterlesen wollte. Eigentlich tat ich es nur aus Neugier darauf, ob denn der wichtige Auftritt letztendlich stattfinden würde (Spoiler: tut er nicht) oder ob der Protagonist wenigstens irgendwann doch noch am Klavier landet (tut er, und zwar in einer winzigen Hütte auf einem Berg, die nur über einen matschigen Trampelpfad erreichbar ist, aber über die perfekte Akustik verfügt). Doch ich vermisste schmerzlich alles, was ich in einem Roman sonst suche und liebe: Identifikationspotential oder zumindest irgendwelche Berührungspunkte mit dem Protagonisten, seinen Erfahrungen oder dem Setting, irgendeinen Sinn.
[Spoiler und Interpretationsvorschlag ab hier]
Erst als ich die Geschichte als Schilderung einer Art alternativen Realität zu verstehen begann, drang Licht durch die obskuren Erzählwindungen. Und schließlich, ganz am Ende, die Einsicht, durch die alle Puzzleteilchen an ihren Platz fielen: Ishiguro beschreibt eine Traumhandlung. Alles, was in der Geschichte geschieht und was so mühevoll zu lesen ist, weil es in der äußeren, sinnlich erfahrbaren Welt einfach keinen Sinn ergibt, spielt sich in einer inneren Welt ab. In einem Traum. Oder noch universeller: in den Träumen eines jeden oder zumindest der allermeisten Menschen.
Auf einmal ergab alles Sinn; auf einmal war alles, was ich da las, zutiefst vertraut und unmittelbar nachvollziehbar. Denn natürlich habe ich Träume gehabt, in denen ich auf dem Weg zu einer wichtigen Veranstaltung war und den Weg nicht fand, wie es dem Protagonisten passiert. In denen ich unmittelbar vor einer Prüfung oder sonstigen großen Aufgabe feststellte, dass ich gar nicht vorbereitet war – wie der Protagonist auf seinen Konzertauftritt. In denen ich plötzlich merkte, dass ich keine Hose und Unterhose trug – im Buch nimmt der Protagonist im Bademantel, unter dem er nackt ist, an einem formellen Bankett teil, und als er aufsteht und eine Rede halten will, öffnet sich der Bademantel weit (woraufhin er sich einfach wieder hinsetzt). Oder in denen jemand, den ich kenne, am völlig falschen Ort auftauchte und Nonsens erzählte. All diese Traumelemente finden sich im Buch, eindeutig wiedererkennbar. In Wahrheit ist der ganze Roman ein einziger, 500 Seiten langer Berührungspunkt mit jedem Traum, den ich je hatte. Und da mir das erst am Ende aufging, nachdem ich mich den größten Teil der Geschichte über mehr gequält als begeistert hatte, möchte ich am liebsten noch mal mit der richtigen Grundannahme von vorn anfangen.
Dabei gibt der Autor durchaus Hinweise darauf, worum es sich bei der Geschichte handelt. Häufig kommen Wörter und Wendungen wie somehow und for some reason vor („irgendwie“, „aus irgendeinem Grund“), genau wie man sie auch verwenden würde, wenn man eine unzusammenhängende Traum-Handlung nachzuerzählen versucht. Oder es wird eine Begebenheit geschildert, der der Erzähler gar nicht beiwohnt, oder Ereignisse aus dem bisherigen Leben einer anderen Figur, von denen der Erzähler eigentlich gar nichts wissen kann – es sei denn in einer Traum-Realität.
Gleichzeitig aber finden sich in einigen der Nebenhandlungen sozusagen untergeordnete Kohärenz, narrative Struktur und Zielgerichtetheit. Nicht für den Protagonisten, den Träumenden, selbst; der irrt die ganze Geschichte lang durch seine Traumlandschaft, findet sich immer wieder an Orten oder in Situationen wieder, von denen er keine Ahnung hat, was er dort soll, hat ständig ein vages Bewusstsein von etwas unvergleichlich Wichtigem, Dringlichem, das ihm bevorsteht, ohne dass ihm irgendwelche Einzelheiten klar sind, und verpasst seinen großen Auftritt schließlich, was aber keine weiteren Konsequenzen nach sich zieht als dass er Hunger hat. (Glücklicherweise findet er in einer Straßenbahn ein reichhaltiges Frühstücksbuffet vor.) Doch die Beziehung zu seiner (Ex-)Frau kristallisiert sich nach und nach konkreter heraus: Sie bemüht sich, sich seinem unsteten Leben voller Tourneen und Reisen anzupassen, kommt jedoch zu dem Schluss, dass es ihr nicht gelingt und dass der Protagonist auch dem gemeinsamen Sohn keine Stabilität bieten, kein guter Vater sein kann. Die Eltern des Protagonisten werden wiederholt erwähnt, tauchen aber nie auf; es wird deutlich, dass seine ganze ruhmvolle Karriere in erster Linie dem Ziel diente, ihre überhöhten Erwartungen zu erfüllen. Hinter dem äußeren Eindruck des gefeierten und auch etwas arroganten Stars offenbart sich also eine durchaus tragische Biographie.
Und schließlich gibt es auch in der bizarren Rahmenhandlung, für die das große Konzert so wichtig ist, eine ebenso schlüssige wie abgeschlossene Entwicklung. Diese Rahmenhandlung innerhalb der Traumwelt fand ich besonders interessant, weil sich darin eine musikalische Utopie präsentiert. In der (ungenannten, aber aufgrund der Namen der dort ansässigen Figuren vermutlich deutschen) Stadt, in der der Protagonist gastiert, bildet die klassische Musik eine wesentliche, wenn nicht die einzige Basis für Kultur, Selbstbewusstsein und Identität ihrer Bewohner. Dabei geht es aber weniger um die „echten“ Klassiker wie Mozart oder Beethoven, sondern um eine gänzlich fiktive zeitgenössische Musik, die, offenbar unbeeinträchtigt durch Entfremdungsentwicklungen wie die Zwölftontechnik, emotional zugänglich und ausdrucksstark ist und deren angemessene Interpretation allen Handelnden ungeheuer wichtig ist. Der residierende Musiker der Stadt, ein Cellist, erfüllt diese Anforderung nicht, was eine umfassende Krise ausgelöst hat. Das muss man sich mal vorstellen: Eine Krise durch mangelnde musikalische Exzellenz – darauf kann nur jemand kommen, der selbst passionierter Musikliebhaber ist! Der Protagonist jedenfalls soll bei der Lösung der Krise helfen. Diese Lösung sieht vor, einen alten und in den letzten Jahren hauptsächlich durch seinen Alkoholismus bekannten Dirigenten zu rehabilitieren und als neue musikalische Instanz der Stadt zu etablieren. Der Dirigent soll beim alles entscheidenden Konzert zum ersten Mal wieder den Taktstock führen, während der Protagonist, kraft seines eigenen Status in der Musikwelt, das Publikum für ihn einnehmen soll. Aber nach und nach wird klar, dass dieser Plan in erster Linie ein Komplott des Hotelmanagers ist, der seine eigenen, persönlichen Beweggründe dafür hat. Ebenso wie der Dirigent nicht von seiner musikalischen Leidenschaft angetrieben wird oder von der Aussicht auf Verbesserung seines eigenen gesellschaftlichen Status, sondern von seinem Bestreben, eine alte Liebe zurückzugewinnen. Da somit keine der Motivationen für das große musikalische Ereignis tatsächlich in der Musik selbst, dem Interesse an ihr oder der Liebe zu ihr besteht, überrascht es nicht, dass der ganze Plan krachend scheitert.
Soweit die narrative Kohärenz – aber wie das vonstattengeht, ist im Detail doch wieder absolut traumartig-surreal. Vielleicht kann man die Geschichte als den Traum eines Musikers auffassen, eines klassischen Musikers im späten 20. oder frühen 21. Jahrhundert, dessen Lebens- und Arbeitswirklichkeit statt musikalischer Erfüllung jede Menge Hindernisse und Widerstände bereithält: das schwindende Interesse der Öffentlichkeit an der klassischen Musik, den harten Kampf um Fördergelder und Engagements oder das snobistisch-elitäre Image, das die Klassikwelt für Außenstehende unattraktiv macht. Dieser Musiker träumt sich in eine Welt, in der die Musik das Allerwichtigste ist, für alle. In der sogar das Schicksal ganzer Städte von ihr abhängt. In einer solchen Traumwelt kann ein Pianist ein Held sein, ein Retter. Doch Träume kommen aus dem Unbewussten, und dort schleppt auch ein erfolgreicher Pianist zu viel Ballast mit sich herum, um nicht genauso verrückte Dinge zu träumen wie alle anderen Menschen auch.
Dies ist keine leichte Unterhaltungsliteratur. Es ist große Literatur, die die Lesenden fordert. Beeindruckt bin ich von ihrer Vielschichtigkeit: Wörtlich genommen, an der Oberfläche sozusagen, erschließt sich die Erzählung nicht, sondern entfaltet ihren Gehalt erst durch aktives Lesen, durch Aus-der-Tiefe-Heben und Um-die-Ecke-Denken. Fasziniert bin ich von der Konsequenz, mit der Ishiguro seine surreale Welt traumhaft-glaubhaft gestaltet. Begeistert bin ich vom Primat der Musik in dieser Traumwelt, dem einzigen Fixpunkt inmitten einer flüchtigen, fließenden, wabernden Vision. Im wahrsten Sinne des Wortes: fantastisch.