20. Februar 2025

Souleymane’s Story, 2024

Am Anfang, sagt der Regisseur Boris Lojkine beim Internationalen Filmfestival in Toronto, wollte er eine Geschichte aus der Welt der Essenslieferanten erzählen: derjenigen, die sich in den Großstädten auf Fahrrädern oder Mofas in den dichtesten Verkehr stürzen, um unter hohem Zeitdruck und für niedrige Löhne privilegierten Städtern ihre Mahlzeiten zu bringen. Lojkine war ursprünglich Dokumentarfilmer. Also erzählt er nicht einfach; er tauchte in diese Welt ein, hörte denen zu, die sie bewohnen, und ließ es zu, dass sich die Geschichte in eine ganz andere Richtung entwickelte als geplant. Es wurde eine Geschichte über Migration und Asyl, über Ausnutzung und Menschlichkeit und über eine ganz private Tragödie.

Souleymane, gespielt von dem Laiendarsteller Abou Sangaré, kommt aus Guinea. Er ist 25, kam über die Mittelmeerroute nach Europa und hat in Paris Asyl beantragt. Arbeiten darf er bis zum positiven Bescheid seines Antrags eigentlich nicht, aber ein Bekannter, der für einen Lieferdienst arbeitet, vermietet ihm sein Mitarbeiterkonto. Souleymane verfügt über ein Fahrrad und ein Handy, über das er die Bestellungen verwaltet und Kontakt mit seiner Heimat halten kann; viel mehr besitzt er nicht. Er schläft in einer Obdachlosenunterkunft, unzählige Männer in Etagenbetten auf engstem Raum, an erholsamen Schlaf ist nicht zu denken. Mit dem Geld, das er als Lieferant verdient (nachdem der Bekannte, dem das Konto gehört, seine „Miete“ abgezweigt hat), bezahlt er einen windigen Anwalt, der ihn und andere afrikanische Migranten auf das Asyl-Interview vorbereitet – unter anderem mit einer fingierten Geschichte und falschen Papieren. Während Souleymane den ganzen Tag mit seinem Fahrrad durch den mörderischen Pariser Straßenverkehr flitzt, versucht er „seine Geschichte“ mit allen Details auswendig zu lernen.

Der Film zeigt diese Abläufe mit halsbrecherischen Kamerafahrten, immer hautnah an seinem Protagonisten, über Radwege, Kreuzungen, zwischen Bussen und LKWs hindurch, mittendrin im Verkehrslärm, dem Hupen, den quietschenden Bremsen, den heulenden Motoren. Die Großstadt umfängt einen unmittelbar; aber sie ist nie im Fokus der Kamera, sondern immer unscharf, im Hintergrund. Dies ist nicht das romantische Paris der Künstler und Liebespaare. Es ist eine undeutliche, aber dennoch unentrinnbare, omnipräsente Bedrohung. Eine Art Hölle.

In dieser Hölle kämpft Souleymane buchstäblich ums Überleben. Er wird angefahren, stürzt, verletzt sich, doch er fährt weiter. Er wird von Restaurantmitarbeitern und Kunden beschimpft und verliert Aufträge wegen Nichtigkeiten. Er wird finanziell ausgenommen von denen, die vorgeben, ihm zu helfen. Aber zwischendurch sieht man kurze Interaktionen, die berühren. Eine Restaurantmitarbeiterin, bei der er eine Lieferung abholt, schenkt ihm ein freundliches Lächeln und ein Bonbon. Ein Kunde, ein alter, gebrechlicher Mann, erkundigt sich nach seiner Herkunft und zeigt Mitgefühl, weil Souleymane so weit weg ist von seiner Heimat; und Souleymane nimmt sich Zeit für den Mann, obwohl seine Zeit doch eigentlich Geld ist – er bietet an, ihm die Pizza zu schneiden, und vergewissert sich, dass der Mann keine weitere Hilfe braucht. Man sieht und fühlt, dass dieser junge Mann, so Schweres und Schlimmes er vermutlich erlebt hat und immer noch erlebt, sich mehr Menschlichkeit bewahrt hat als die Reichen und Glücklichen der Großstadt.

Durch die Unmittelbarkeit der Darstellung wirkt der Film streckenweise tatsächlich wie ein Dokumentarfilm. Es gibt keine Musik, keine Effekte, nur die harte, rücksichtslose Realität – einer fiktiven Figur, das schon, aber die Geschichte als solche ist höchst realistisch. Umso schwieriger ist es, die Rückschläge mitanzusehen, die Souleymane erlebt. Er verliert seine Beziehung – in einem herzzerreißenden Telefonat trennt er sich von seiner Freundin, damit sie die Chance auf ein gutes Leben daheim in Guinea hat, statt ihm zu folgen auf die tödliche Route nach Europa. Er verliert seine Arbeit und sein Einkommen, ohne eigenes Verschulden. Und schließlich durchschaut die Beamtin, der er bei seinem Asylinterview gegenübersitzt, seine Lügengeschichte, weil sie sie fast wortwörtlich schon von mehreren anderen Asylbewerbern gehört hat.

[Spoiler ab hier]

Das Interview ist die letzte lange Szene des Films, und im Gegensatz zu fast allem Vorherigen ist sie statisch, langsam, quälend ruhig. Ebenso hautnah wie zuvor im Pariser Straßenverkehr erlebt man nun mit, wie Souleymane damit kämpft, lügen zu müssen. Wie er die auswendig gelernten Teile seiner „Geschichte“ regelrecht ausspuckt, perforiert vom Klappern der Computertastatur – während er, wenn die Beamtin nach zusätzlichen Informationen fragt, sich jedes Wort mühsam abringt. Außer bei den grausamsten Einzelheiten, die er, das ahnt man, das bringt Sangaré meisterhaft zum Ausdruck, tatsächlich erlebt hat. Und man fühlt die Leere und Ausweglosigkeit bei der Erkenntnis, dass die Lüge gescheitert ist. Doch die Beamtin bietet ihm noch einen Ausweg: die Möglichkeit, seine wirkliche Geschichte zu erzählen. Souleymane bricht zusammen – und gibt, er hat ja nichts mehr zu verlieren, die eigentliche Tragödie preis, die ihn nach Paris getrieben hat. Erst in dieser, finalen Szene erfährt man also die wahre Bedeutung des Filmtitels. Dann ist Schluss.

Man sitzt im dunklen Kino und weint.

Und bleibt mit Fragen zurück. Was wird aus Souleymane? Seine wahre Geschichte, so traurig sie ist, taugt nicht als Asylgrund – daher die Lügengeschichte, die politische Verfolgung nahelegen sollte. Souleymane ist, wie es im kalten Bürokratendeutsch manchmal heißt, ein Wirtschaftsflüchtling. Wird die Beamtin ihm aus Mitgefühl, wie sie es ja schon im Interview gezeigt hat, dennoch zu einer Chance auf ein legitimes Leben in Frankreich verhelfen? Und was wird Souleymane in der Zwischenzeit tun, in den Wochen, vielleicht Monaten, die er auf den Bescheid warten muss? Man wünscht ihm von Herzen, dass sein Leben sich zum Besseren wenden wird. Aber die Realität – die Realität, die dieser Film mit großer Eindringlichkeit darstellt – ist, dass Europa ihn nicht will. Dass Menschen ihn ablehnen, dass Politiker nach Strategien suchen, um ihn loszuwerden und seinesgleichen gar nicht erst hereinzulassen.

Souleymanes Geschichte sollte viel lauter erzählt werden. Sie sollte immer wieder erzählt werden, an jedem Ort, wo Menschen anderen Menschen ihre Menschlichkeit absprechen. Souleymane hat dieses Schicksal schon in seiner Heimat erlitten, und dasselbe droht ihm in Europa. Seine Geschichte ist wichtig, notwendig sogar, um die Menschlichkeit im Diskurs über Migration nicht gänzlich aufzugeben.

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